Christoph Marthaler steckt die europäische Ober- und Mittelschicht in eine Turnhalle. „Die Wehleider“ kreiseln dort um sich selbst
Wie die Opfer einer Katastrophe stolpern sie auf die Bühne, mit gesenkten Köpfen, eingehüllt in graue Wolldecken, herumkommandiert von drei Aufpassern mit Migrationshintergrund. 15 Vertreter des gehobenen europäischen Bürgertums, die irritiert und genervt ihren neuen Wohnort betrachten – eine Turnhalle, wie sie klassischer nicht sein könnte. Schaukelringe, Medizinbälle, Reck, Sprossenwand, alles da. Nur die zersplitterten Fenster, oben auf der Galerie, wirken etwas bedrohlich, und auf dem Boden liegen nicht die üblichen Turnmatten, sondern billig bunte Matratzen. War da nicht was mit Turnhallen, Flüchtlingen und Notunterkünften?
Die Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Viebrock hat für Die Wehleider einen Raum erschaffen, der selbst Geschichten erzählt. „Bitte die Geräte auf ihren Platz zurückstellen“, steht an einer Wand. Und sofort erinnert sich der Zuschauer an die „Leibesübungen“, die er in ähnlichen Räumen absolviert hat, an den muffig verschwitzten Geruch der alten Bundesrepublik.
In Christoph Marthalers Inszenierung nach Motiven aus Maxim Gorkis Sommergäste ist diese klar strukturierte Welt nur noch eine blasse Erinnerung. Angst hat sich breitgemacht, das eigene Selbst ist zum wichtigsten Projekt geworden, an dem bis zur Erschöpfung herumoptimiert wird. Was außerhalb der eigenen Blase vorgeht – wen interessiert das schon?
Da kommt eine resolute Fachkraft wie Irm Hermann gerade recht. Als Leiterin der „privaten Spezialklinik für Angst, Depression und psychosomatische Störungen Dr. Amelung“ begrüßt sie die verunsichert herumstolpernden Eliten. Es seien ja jetzt wieder viele Turnhallen frei geworden, erklärt sie munter, so dass die Gäste sich hier erholen könnten. Verlassen dürften sie den Ort jedoch nicht. Was folgt, ist eine komische, boulevardesk übersteigerte Mischung aus körperlicher Ertüchtigung, wehleidigen Gesängen und Sturzbächen von selbstbezogenem Geplapper: „Ich halte mein Leben nicht mehr aus“, stöhnt eine von Sasha Rau verkörperte Supertussi. „Wir waren alle so schön, als die Welt noch gestimmt hat“, klagt eine aufwendig in Gucci oder Chanel verpackte Besserverdienerin.
Keiner hat etwas gegen Flüchtlinge, natürlich nicht, aber man würde sie schon gerne aussuchen, bevor man sie aufnimmt. „Ich erwarte gesenkte Häupter und kein breites Grinsen“, sagt Josef Ostendorf, herrlich überzogen als Donald-Trump-Doppelgänger. Grüße von Alec Baldwin und Saturday Night Live. Wie Ostendorf gehören viele der durchweg tollen Schauspieler zu Marthalers Stamm-Mannschaft. Und wie so oft in Stücken des Schweizer Regisseurs wird auch in Die Wehleider auf der Bühne viel gesungen und im Publikum viel gelacht. Trotzdem können sich die schrillen Selbstdarsteller mit ihren kecken Slogans nicht darüber hinwegtäuschen, dass radikale Veränderungen bevorstehen. Die Anderen, die auf ihrem Weg zu uns im Moment noch ertrinken oder von Zäunen geschossen werden – man wird sie nicht ewig aufhalten können.
Die Anderen werden von den Aufpassern und Betreuern repräsentiert – Joaquín Abella, Haizam Fathy und Antonio Jiménez Navarro. Tänzer, die wenig reden – und wenn, dann auf Arabisch –, dafür aber physisch umso präsenter sind. Einmal kugeln sie buchstäblich als Ball ineinander verschränkt über die Bühne. Ein Bild großer Vitalität und Vertrautheit, zielgerichtet und spielerisch zugleich. Ganz anders die verunsicherten Wehleider. Einerseits an der ständigen Reparatur und Verbesserung ihrer Körper interessiert, andererseits komplett entfremdet und überlebensuntüchtig. In einer amüsanten „Turnstunde“ werden sie von den Pflegern wie Puppen animiert. „Befinden wir uns vor oder nach dem Dammbruch?“, fragt einer im Verlauf des Stücks. Ja, wenn man das nur wüsste.
Wenn ich ein Vöglein wär singen die Wehleider sehnsüchtig im Schlaf. Am liebsten aber stimmen sie die Europahymne an, die Ode an die Freude, in der alle Menschen Brüder werden. Klassik und Romantik als schöngeistiger Rettungsanker einer untergehenden Welt. Medleys von Modern-Talking-Hits und El-Arenal-erprobte Sauflieder rücken das Bild vom deutschen Kulturbürger wieder gerade: „Das Leben ist ein Ponyhof, und wir wollen alle reiten.“
Die Vertreter der europäischen Ober- und Mittelschicht werden im Verlauf des Stücks immer hysterischer. Der Donald-Trump-Lookalike würde am liebsten „Gesetze gegen falsche Ansichten“ erlassen.
Obwohl Marthaler und seine langjährige Dramaturgin Stefanie Carp nur wenige Sätze aus Maxim Gorkis Sommergäste verwenden, schwebt über dem Stück das berühmte Zitat: „Wir sind Sommergäste in unserem Land. Wir gehören nirgendwohin. Wir tun nichts. Wir reden nur schrecklich viel.“ Vor dem Hintergrund der heraufziehenden russischen Revolution kreiselten auch Gorkis Großbürger konsequent um sich selbst.
Nomaden des Reichtums
„Ich bin für eine offene Gesellschaft, möchte aber persönlich nichts damit zu tun haben“, sagt einer auf der Bühne des Hamburger Schauspielhauses, der weiß, dass Geld den „Nomaden des Reichtums“ immer einen Ausweg, oder zumindest Ortswechsel, ermöglicht. Begriffe wie liquid citizenship oder seasteading werden unter Superreichen in der Realität bereits ernsthaft diskutiert. Die Nomaden der Armut sterben unterdessen weiter bei ihrem Streben nach einem bisschen Teilhabe und Glück.
Marthaler verschärft deshalb gegen Ende den Ton. Fünf Politiker und willige Vollstrecker müssen sich in einer nahen Zukunft vor einem Tribunal unter Vorsitz der „Weltpräsidentin“ verantworten. Völkermord wird ihnen vorgeworfen, der Tod von Hunderttausenden, die im Mittelmeer oder in Camps ihr Leben ließen. Stotternd und stammelnd stehen sie da, in ihren maßgeschneiderten Anzügen. „Es war nicht jeder von uns ein schlechter Mensch, da hat sich etwas verselbstständigt“, versuchen sie sich herauszureden. „Wir glaubten an Werte, konnten sie aber nicht realisieren.“ Ja, ja, möchte man da antworten, das hatten wir doch alles schon. Christoph Marthaler hat den Sommergästen ein treffendes Update verpasst und das Banale und das Schreckliche konsequent miteinander verschränkt. Oder, wie der Schriftsteller Björn Kuhligk kürzlich in seinem Langgedicht Die Sprache von Gibraltar schrieb: „Papa, was hast du gemacht, als die Leute von den Zäunen geschossen wurden? Ich habe etwas für meinen Körper getan.“
Jürgen Ziemer
„Die Wehleider“, SchauSpielHaus Hamburg
Erschienen in Der Freitag 49/2016