Die Popmusik hat eine neue Chefanklägerin: Ein Treffen mit der Sängerin Anohni, die ein phänomenales Protestalbum veröffentlicht hat.
Foto: © Alice O’Malley/Rough Trade Records
In einer Pariser Hotelsuite voller Rosensträuße und Fruchtschalen steht die Sängerin Anohni, schüchtern wie ein zu groß geratenes Schulmädchen. Die weit geschnittenen Hosen und die wallende Tunika sehen unspektakulär, aber teuer aus. Einige Meter entfernt haben ihr Manager und eine Mitarbeiterin der Plattenfirma Platz genommen. Zur Sicherheit läuft auf dem Couchtisch noch ein zweites Aufnahmegerät mit. Was mag bei früheren Interviews bloß vorgefallen sein? Noch vor der ersten Frage möchte Anohni einen Punkt klären: „Werden Sie einen weiblichen Artikel verwenden, wenn Sie über mich schreiben?“ Ja, natürlich. Aber warum der Wechsel von Antony, wie sie sich früher nannte, zu Anohni? „Freunde und Familie nennen mich schon seit Jahren so, ich wollte mich endlich auch offiziell dazu bekennen. Dass ich transgender bin, daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht.“ Stimmt. Schon 2005 sang sie: „One day I’ll grow up, I’ll be a beautiful woman. For today I am a boy.“
Anohni ist noch immer sehr aufgebracht. Die Hollywood-Welt sei ihr immer fremd gewesen, sagt sie. „Bei uns zu Hause gab es kein Fernsehgerät. Auf dem College war ich die Einzige, die keinerlei Filmstars kannte. Ich habe mein Geld lieber für drei Päckchen Zigaretten am Tag ausgegeben als für Kinokarten. Dass es überhaupt eine Celebrity-Kultur gibt, das habe ich erst Anfang der Neunziger in New York herausgefunden. Denn auch meine Subkultur-Freunde redeten ständig über Leute wie Pamela Anderson.“ Inzwischen sieht man Anohni öfter mit Celebrities. Mit vielen hat sie bereits zusammengearbeitet: Björk, Marina Abramović, Lou Reed, Yoko Ono, Laurie Anderson, sogar Herbert Grönemeyer. Die in England geborene New Yorkerin thront nun im Schneidersitz auf der Couch, wie eine vom reinen Geist durchdrungene Matriarchin. In langen, leisen Monologen trägt sie ihre detaillierten Gedanken vor. Gelegentlich unterbrochen von einem unpassend schrillen „Dürfte ich noch etwas Tee haben?“ oder einem „Klingt das dumm?“, in Richtung des Managers.
Die Freiheitsstatue sitzt im Kampfanzug und gedemütigt auf dem elektrischen Stuhl
Nicht ohne Grund heißt das neue Album Hopelessness. Die einzelnen Songs handeln von den großen katastrophalen Entwicklungen, fast als hätte Anohni eine Checkliste abhaken wollen. Der Krieg in Syrien (Crisis), Gewalt gegen Frauen (Violent Men), staatliche Überwachung (Watch Me) oder die Todesstrafe (Execution). Die Musik will einen zum Tanzen bringen – aber mit wütend geballter Faust: „Ich wollte etwas, das wie ein Trojanisches Pferd funktioniert. Das den Ohren schmeichelt, aber trotzdem Biss hat“, sagt Anohni. Das Lied Drone Bomb Me singt sie aus der Perspektive eines afghanischen Mädchens, deren Familie von US-Drohnen getötet wurde. Sie stellt sich vor, wie das Kind in die Kamera einer vorüberfliegenden Drohne blickt, direkt in die Augen des Soldaten, der weit entfernt in einem Bunker in Nevada sitzt. „Blow my head off, explode my crystal guts, lay my purple on the grass!“, fordert sie, während im Hintergrund eine unterkühlte, aber hymnische Todesmusik spielt. Im dazugehörigen Video singt Anohni aus dem Mund von Supermodel Naomi Campbell, die wie eine gedemütigte Freiheitsstatue im Kampfanzug auf dem elektrischen Stuhl sitzt. In Obama attackiert sie den amerikanischen Präsidenten im monotonen Muezzin-Singsang und klingt dabei, als sei sie die neue Chefanklägerin am Internationalen Gerichtshof. Trotzdem: Eindeutigkeiten gibt es hier nicht, Täter und Opfer sind nicht mehr klar voneinander zu trennen. „Die Frage ›Was ist meine Rolle in diesem Szenario?‹ zieht sich wie ein roter Faden durch das Album“, sagt Anohni. „Wir Amerikaner sind von unserer eigenen Situation so absorbiert, dass wir uns nicht mehr vorstellen können, welchen Schaden unsere Politik in anderen Teilen der Welt anrichtet.“
Pop im emphatischsten Sinn
Der anheimelnde Kammerpop der Johnsons hätte zu dieser Abrechnung schlecht gepasst: „Die Arbeit mit Streichern und Piano war eine Zeit lang eine subversive Ästhetik“, sagt Anohni. „Doch inzwischen wirkt das antiquiert und pastoral, für relevante politische Themen fehlt solchen Liedern die Kraft.“ Mit Hopelessness drängt sie deshalb in den Circus Maximus des Pop, hin zu Rihanna und Kanye West. Die Texte sind hochpolitisch, aber noch immer persönlich. Auch um diese Widersprüche zusammenzuhalten, hat sie den Produzenten Hudson Mohawke engagiert, er unterlegt die scharfen Texte mit hymnischen Electro-Beats. „Seine Musik ist wie emotionale Propaganda. Er zwingt dich, etwas zu fühlen, seine Stücke erzeugen ein rauschhaftes Hochgefühl.“ Anohnis zweiter musikalischer Begleiter, der Produzent Daniel Lopatin, sonst unter dem Namen Oneohtrix Point Never bekannt, steuert für das Album einen kristallklaren, extrem künstlichen Sound bei.
Hopelessness ist Pop im besten und emphatischsten Sinn. Danach möchte man sofort aufspringen und dabei helfen, die Welt zu retten. In die Nähe des abgehalfterten Protestsong-Genres gehört das phänomenale Album trotzdem nicht. Ob es sich tatsächlich um „Dance Music“ handelt, wie Anohni behauptet, wird demnächst in den Clubs entschieden. Was Hopelessness aber in jedem Fall ist: eine Abkehr von der Musik, für die Antony and the Johnsons standen. „Beauty is the new Punk“ lautete deren Slogan noch, weil ihr Kammerpop anfangs nicht in Konzerthäusern gespielt wurde, sondern in inzwischen längst weggentrifizierten Bruchbuden der Lower Eastside. Aber die schönen Geister, die Antony and the Johnsons riefen, haben sich vermehrt und bevölkern jetzt ein neues Pop-Biedermeier. In Stadttheatern liebt man den bürgerlichen Mix aus Neo-Klassik, ambitionierter Elektronik und einer kritischen Haltung, die zu nichts verpflichtet. Gender-Politik, House Music und andere Errungenschaften der Queer Culture stehen schon länger hoch im Kurs. „Es wird nicht automatisch alles gut, wenn wir nur unsere Identitätsprobleme lösen“, sagt Anohni jetzt. „Den Leuten mit geringem Einkommen hilft das wenig, ihr Leben wird trotzdem immer härter.“ Was also tun? Anohni zuckt mit den Schultern. Darauf weiß sie die Antwort auch noch nicht. „Hopelessness richtet sich an alle, die ähnlich denken und empfinden wie ich“, sagt sie zum Abschied. Dann nestelt sie an einem der Blumensträuße herum und überreicht feierlich eine weiße Rose, zusammen mit einer Umarmung.