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Aschram und Avantgarde

Foto: Aubrey Trinnaman

 

 

New-Age-Musik galt lange als Hippiekram. Seit ein paar Jahren tauchen aber echte Perlen auf. Pionierin Pauline Anna Strom setzte sich mit 74 nochmal an die Klangmaschinen

 

Es ist still geworden. Und einsam. Clubs und Bars haben seit Monaten geschlossen, Schwermut geht um, Müdigkeit macht sich breit. Gibt es Menschen, die jetzt zu Hause den hochtourig hämmernden Rock der Idles auflegen? Bestimmt. Doch Spotify lockt momentan eher mit Playlists wie „Calm Down“, „Chill Vibes“ oder „Peaceful Indie Ambient“.

Dazu passt ein seltsamer kleiner Trend, der schon seit einigen Jahren durch Blogs und Musikseiten geistert: New-Age-Musik. Ja, genau, das Hintergrundrauschen von Spas und Wellness-Tempeln, die spirituelle Seite von Ambient, summende Klangschalen und klingelnde Windspiele. Andreas Vollenweider, Enya oder Kitaro, die Megastars des Genres, sind allerdings nicht gemeint, auch wenn Chilly Gonzales sich gerade als Enya-Fan geoutet hat. Am Anfang stand die Wiederentdeckung selbst veröffentlichter und vertriebener Aufnahmen aus der Frühzeit des Genres. Schillernde, oft elektronische Außenseiter-Musik, die den Hörer umschmeicheln und entspannen möchte. Die opulente Compilation I Am The Center: Private Issue New Age Music in America, 1950 – 1990 bot himmlische Einblicke in eine wenig bekannte Welt, zwischen Aschram und Avantgarde. Douglas McGowan, der die Stücke für das Label Light In The Attic ausgegraben und zusammengestellt hat, versteht die Musik als „great American folk art“. Ohne Holzgitarre, aber produziert von Fans für Fans, oft mit erstaunlichen ästhetischen Offenbarungen. Die Compilation Kankyo Ongaku, eine elegante japanische Variation des Themas, brachte McGowan 2019 sogar eine Grammy-Nominierung für das „beste historische Album“. Auch das Interesse an New-Age-Pionieren wie Iasos, Laraaji oder Suzanne Ciani ist stark gestiegen. Ciani wäre im vergangenen Oktober in der Hamburger Elbphilharmonie aufgetreten – doch der Lockdown kam ihr zuvor.

„Früher kauften so etwas nur alte Hippies und anspruchslose Langweiler. Jetzt sind es überwiegend Millennials“, zitiert der Guardian einen Mitarbeiter von Amoeba Music in Berkeley. Auch in deutschen Plattenläden gibt es inzwischen New-Age-Fächer. Unter Yoga praktizierenden Hipstern und Connaisseurs gilt vor allem Pauline Anna Strom als Legende. Ihr 1982 zunächst nur auf Musikkassette veröffentlichtes Album Trans-Millenia Consort gilt heute als Meilenstein, die LP-Version wird bei Discogs aktuell für 299 Dollar angeboten. 40 Jahre lebte und arbeitete die von Geburt an blinde Autodidaktin in einem kleinen Apartment in San Francisco, zusammen mit ihren Klangmaschinen und den beiden Leguanen Little Soulstice und Ms Huff. Stücke wie Morning Splendor atmen die weltabgewandte Exotik eines versteckten botanischen Gartens, in dem sich Formen, Farben und Düfte zu einem synästhetischen Klangerlebnis verbinden. Nach sieben Alben stellte Pauline Anna Strom 1988 die Produktion ihrer nur in Kleinstauflagen zirkulierenden Musik ein, um sich ganz der Praxis des Spiritual Healing zuzuwenden. Diese Arbeit habe ihr Verständnis von Musik noch vertieft, sagte sie 30 Jahre später, denn Musik sei „der verbindende Link zwischen uns und der Quelle“.

Raum ohne Nostalgie

Eigentlich wäre diese Geschichte hier schon wieder zu Ende. Hätte nicht Matt Werth, Betreiber des auf Avantgarde und Elektronik spezialisierten Labels RVNG Intl., die Musik von Pauline Anna Strom im Internet entdeckt. Die 2017 auf RVNG Intl. erschienene Compilation Trans-Millenia Music war ein gelungener Streifzug durch die Archive der Künstlerin. Die Kritiker waren begeistert. Das britische Online-Musikmagazin The Quietus stellte fest: „Sie nimmt dich mit, in einen Raum ohne Nostalgie für die Vergangenheit, ohne Angst vor der Zukunft, allein die Gegenwart des Klangs und seine Erfahrung zählen.“

Also beschloss Pauline Anna Strom, mit 74 Jahren noch einmal ein komplett neues Album zu veröffentlichen: „Sie wollte nicht, dass eine Kollektion älterer Stücke ihr künstlerisches Schicksal besiegelt“, erklärt Matt Werth, auf dessen Label Angel Tears in Sunlight gerade erschienen ist. Eine wunderbar ozeanische Musik, schillernd in ihrer Fantasie und Neugier, ein raffiniertes Update der Exotika von Martin Denny und des Krautrocks von Cluster. Leider erlebt Strom die Veröffentlichung nicht mehr – sie starb am 13. Dezember 2020 aus ungeklärten Gründen. „Spiritualität ist wichtig für Angel Tears in Sunlight, aber auf einem rein subjektiven Level“, schreibt Werth in seiner Mail. „Pauline hatte kein Interesse daran, ihrer Musik oder den Hörern eine entsprechende Agenda unterzujubeln.“

Einer der liebenswertesten Aspekte von New Age und Ambient ist, dass diese Musik den Hörer*innen in der Regel einfach nur Vergnügen bereiten möchte. Die Musiker*innen fürchten sich nicht vor Freundlichkeit und Schönheit, die Klangpalette verbreitet die Aura einer idyllischen Kindheit: zartes Pulsieren, heiteres Glöckchen-Gebimmel und Klangflächen, die dahintreiben wie sommerliche Kumuluswolken. William Thomas, Betreiber des New-Age-Archiv-Blogs Sounds Of The Dawn, sagt: „Es gibt eine starke Tendenz, das Sanfte, Schöne und Wohltuende nicht als künstlerisch oder authentisch anzuerkennen.“ Einerseits ist New Age in gewisser Hinsicht die ultimative Do-it-yourself-Musik – eingespielt im Homestudio und vertrieben durch Netzwerke außerhalb der Plattenindustrie –, andererseits gibt es kaum eine Verbindung zur eher ungehobelten LoFi-Ästhetik anderer DIY-Genres.

Inzwischen sitzt die nächste Generation an den Notebooks – und lässt gelassen die Grenzen zu Ambient und Neo-Klassik verschwimmen. Themen wie Heilung, Achtsamkeit und Entschleunigung stehen trotzdem noch hoch im Kurs. Healing Is A Miracle, das jüngste Album von Julianna Barwick, gehört in dieser Hinsicht zu den Höhepunkten des vergangenen Jahres. Die Musikerin aus Brooklyn schichtet unzählige Spuren ihres hymnischen Gesangs übereinander und grundiert das Ganze mit nebulösen, aber kraftvollen Bässen. „Das Album gibt Halt in einer Zeit, die so haltlos wirkt wie schon lange nicht mehr“, befand Deutschlandradio Kultur.

Yoga und Meditation gelten schon lange als Mittel zur Selbstheilung, manche sagen: Power-Tools, das klingt weniger nach Schwäche. Doch die allgemeine Erschöpfung ist groß. Der Kapitalismus produziert permanent Angst, Unsicherheit und neue Verlierer. So etwas lässt sich nicht einfach wegatmen. Dennoch gibt es gerade eine Flut von Achtsamkeits-Apps, die genau diesen Eindruck erwecken möchten. Sie locken mit Namen wie Calm, Headspace, 7Mind oder gleich Sleep – die Zweitverwertung einer achtstündigen (!) Komposition von Max Richter, die gekürzt beim Klassik-Label Deutsche Grammophon erschienen ist. Sleep zeigt einen sich langsam drehenden Vollmond und lockt mit den Optionen „Schlaf“, „Meditation“ und „Focus“. Wer mag, kann „schwebenden Gesang inkludieren“, oder „Sanftes Aufwachen“. Eine Art Ein- und Ausschalter für das eigene Leben.

Einlullen und entspannen

Naturwissenschaftler untersuchen seit Jahrzehnten die stressbewältigende und -reduzierende Wirkung von Musik und Meditation. Der Mediziner und Neurowissenschaftler Tobias Esch hat dazu diverse Bücher verfasst. Er sagt: „Musik hat eine biologische Bedeutung, sie kann sowohl alarmierend als auch beruhigend sein. Bestimmte Genres, Tonfolgen oder Klänge sind besonders geeignet, einen beruhigenden Effekt zu haben.“ Wie eine Meditation kann uns Musik, unter Umgehung unseres Denkens, in einen Entspannungszustand führen. Mit New Age und Ambient funktioniert das offenbar perfekt: „Wir werden in einen Raum gesandt und sind, auch ohne uns aktiv zu fokussieren, plötzlich umgeben von etwas, was uns comfortet, einlullt und dadurch abschirmt. Eine perfekte Voraussetzung, um in einen Entspannungszustand zu geraten. So wie eine Mutter, die dich in den Arm nimmt und hin und her wiegt“, erklärt Esch.

Man muss nicht an Osho oder Maharishi Mahesh Yogi glauben, um die Musik von Pauline Anna Strom, Iasos oder Julianna Barwick zu genießen. Musik hat viele Funktionen, manchmal begleitet sie uns einfach durch den Alltag, so wie die Möbelmusik von Erik Satie oder Brian Enos Music for Airports. Über die Qualität sagt das nichts aus, jedes Genre hat seine eigenen ästhetischen Maßstäbe. „Everything we do is music“, erklärte einst der Komponist John Cage, der aus seiner Begeisterung für den Zen-Buddhismus und dessen klangliche Umsetzung nie einen Hehl gemacht hat. Manchmal sind die Pausen wichtiger als die Töne.

Jürgen Ziemer

Erschienen in Der Freitag, Ausgabe 08/2021

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