Halb Paul McCartney, halb Wernher von Braun: Der Ex-Kraftwerker Karl Bartos hat die Platte gemacht, die Kraftwerk nicht mehr hinkriegen
Foto: Katja Ruge
Kraftwerk sind der Audi des Pop: technisch hoch versiert, ästhetisch progressiv. Eine Musikmarke, made in Germany, deren Wert sich daran messen lässt, dass Konzerte längst nicht mehr in normalen Sälen stattfinden, sondern im Museum of Modern Art, der Tate Modern oder der Kunsthalle Düsseldorf. Ralf Hütter, das letzte verbliebene Originalmitglied, hat seit zehn Jahren kein Album mehr veröffentlicht. Dafür pflegt er das Erbe, ist der einsame Kurator eines außergewöhnlichen Werks, das einst im Team mit anderen Musikern entstand – das Wort Band wirkt hier seltsam fehl am Platz.
Karl Bartos war 15 Jahre lang ein wichtiger Mitarbeiter dieses klangverarbeitenden Unternehmens. Als Co-Autor hat er einige der populärsten Songs mitgeschrieben: Das Model, Die Roboter oder Computerwelt. Der Absolvent der Düsseldorfer Robert-Schumann-Hochschule für Musik sorgte für den präzisen Beat und die glasklare melodische Struktur der Stücke. Mit seinem Weggang 1990 verschwanden die Melodien aus der Musik von Kraftwerk. Man muss sich Bartos als eine rheinländische Mischung aus Paul McCartney und Wernher von Braun vorstellen.
Nach einer mehrjährigen Gastprofessur an der Berliner Universität der Künste hat er nun ein Album veröffentlicht, bei dem schon das Cover tief in die Vergangenheit blickt und blicken lässt. Es zeigt den alten Kraftwerk-Roboter des Musikers, wie man ihn schon auf Die Mensch-Maschine und Computerwelt bewundern konnte. Auch die zwölf Songs von Off The Record enthalten Rhythmen, Melodien und Sounds, die Bartos während seiner Zeit bei Kraftwerk komponiert und auf Musikkassetten oder digital gespeichert hat. Fast wie in einem Science-Fiction-Film ist er in die Vergangenheit gereist, um mit verlorenem Wissen die Zukunft neu zu programmieren. Am Heimcomputer in seinem Haus in Hamburg.
Für ein Treffen hat Karl Bartos das Café im Hamburger Literaturhaus vorgeschlagen. Ein unprätentiöser Ort, ganz ohne futuristische Attitüden. Der 60-Jährige erscheint in einem dunkelblauen Dufflecoat, darunter Rollkragenpullover, Jeans und ein paar Desertboots, alles ziemlich dunkel, alles recht unspektakulär. Man hatte ihn eher als Dandy im Stil der fünfziger Jahre in Erinnerung, so wie auf den alten handkolorierten Kraftwerk-Fotos eben. Vom Habitus her wirkt er heute deutlich lässiger und seltsamerweise fast jünger als damals. Bartos ist ein umgänglicher Plauderer, seine Sätze rollen wie kleine Wellen in einer sanften rheinischen Melodie.
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»Ich habe lange darauf gewartet, dass die Leute genauer hinhören und bei den Kraftwerk-Titeln auch mal die Autorenzeile lesen«, sagt er, und man spürt, wie wichtig ihm das ist. »Deshalb bin ich jetzt sehr begeistert von den vielen positiven Resonanzen zu Off The Record. Die kommen von überall her, aus London, Paris oder Barcelona.« Es sind nicht nur Musikzeitschriften, wie das avantgardistische Wire, die jetzt lobende Kritiken veröffentlichen, auch die Financial Times attestiert seinem Album: »The Kraftwerk record, that Kraftwerk, it seems, are unable to make.«
In der offiziellen Kraftwerk-Geschichtsschreibung galten Wolfgang Flür und Karl Bartos bisher eher als Rhythmus-Roboter und austauschbare Befehlsempfänger. Dass Karl Bartos auf wichtigen Alben wie Die Mensch-Maschine oder Computerwelt mehr Songs verantwortet als das Gründungsmitglied Florian Schneider, ist weitgehend unbekannt. Und es fiel ihm ganz offensichtlich nicht schwer: »Einen Titel wie Computerliebe zu schreiben, das hat ohne Quatsch zwei, drei Minuten gedauert. Ich brachte eine Melodie mit, und Ralf Hütter spielte sofort etwas Passendes dazu«, sagt Bartos. Die Band Coldplay stellte die enorm süffige Tonfolge vor einigen Jahren noch einmal ins Zentrum ihrer Single Talk.
Bartos ist 1975 zu Kraftwerk gestoßen, unmittelbar nach der Veröffentlichung von Autobahn. Das Düsseldorfer Musikkonservatorium, wo er im 10. Semester studierte, vermittelte ihn damals an Florian Schneider und Ralf Hütter, die einen Schlagzeuger für die erste USA-Tour von Kraftwerk suchten. »Schlagzeuger galten unter Jazzmusikern in den Sechzigern und Siebzigern als ›Rhythmusknechte‹. Und im Opernorchester waren das natürlich auch die gröberen Burschen«, Bartos lacht über die alten Klischees. Doch dann erzählt er von den Stockhausen-Aufführungen, an denen er beteiligt war, und all den anderen Werken der in den Siebzigern boomenden Neuen Musik. Er bewunderte Kraftwerk für ihre Coolness und Extravaganz, doch das zuzugeben fiel ihm schwer.
»Ralf hatte Klavierstunden, Florian Flötenstunden. Wie das Leute aus diesen Kreisen halt so machen. Ich musste für meinen Musikunterricht kämpfen«, sagt der studierte Drummer. Klar, Schneider und Hütter repräsentierten bei Kraftwerk das gehobene Bürgertum, Bartos und Flür waren eher die Jungs aus der Arbeiterklasse. Das Kumpel-Modell der klassischen Rockband hat hier auch deshalb nie richtig funktioniert.
Aber man konnte hervorragend miteinander arbeiten. Der Pop der Beach Boys und Beatles war dabei ebenso wichtige Einflüsse wie die Musique Concrète von Pierre Schaeffer und die esoterischen Sphärenklänge eines Karlheinz Stockhausen. Dazu kam ein Gerätepark mit neuester Elektronik. »Im Kling Klang Studio hatten wir unser Forum«, schwärmt Bartos. »Dort schleuderten wir jeden Tag Ideen hinein, in Form von Platten, Büchern und Filmen. Wir sahen Metropolis, irgendwo in der Landesfilmstelle, oder wir fuhren zusammen nach Wuppertal zu einem bulgarischen Chor.« Aus diesem avantgardistischen Künstlerspiel entstand ein Pop-Entwurf, der die Musik der folgenden Jahrzehnte ebenso stark prägte wie die Beatles die Sechziger. Mit Top-10-Hits wie Das Model eroberte der Electro-Pop die Welt.
Vom Urheberrecht hatte Bartos damals keine Ahnung. Deshalb taucht er erst bei Die Mensch-Maschine als Komponist unter den Songtiteln auf. Und bis Mitte der Achtziger lief für ihn auch alles prächtig. Dann aber folgten Jahre des Stillstands. Kraftwerk gaben kaum noch Konzerte, weil die Einführung der CD für einen Boom der Verkäufe und entsprechende Einnahmen sorgte: »Für die Leute, die an der Wertschöpfung teilnahmen, lief es unheimlich gut«, sagt Bartos. Leider gehörte er nicht dazu. Statt kreativen Debatten über das Wesen von Musik stand nun der Radsport im Mittelpunkt des Interesses von Hütter und Schneider.
Fachzeitschriften wie L’équipe oder Miroir du cyclisme stapelten sich auf dem Tisch des Kling Klang Studios. »Es entstand ein Vakuum, das durch endlose Fahrradtouren aufgefüllt wurde. Für mich wurde das damals finanziell absurd. Denn ich war exklusiv an dieses Unternehmen gebunden und durfte nichts anderes machen.« Wer hat ihm denn einen solchen Knebelvertrag aufgezwungen? Die Plattenfirma? »Nein, das waren meine Kompagnons. Ich war exklusiv dabei, hatte aber keinen Einfluss auf die Arbeitsbedingungen und den Output. Ich konnte nur hinkommen und komponieren, das war eine unglaublich prekäre Situation. Eigentlich wollte ich gar nicht weg von Kraftwerk, es fiel mir unglaublich schwer, da hab ich jahrelang dran gebastelt.«
Karl Bartos klingt bitter, wenn er über diese Dinge spricht. Er fühlt sich betrogen um einen Teil seines Lebens und auch um einen Teil der Anerkennung für seine Kunst. Die Augen blitzen, wenn er sich darüber erregt, dass Ralf Hütter nun im Alleingang eine weltweite Kraftwerk-Retrospektive durchzieht. Ausgerechnet Hütter, mit dem er früher so mühelos gemeinsam Songs schreiben konnte. Etwas muss zerbrochen sein in den späten Achtzigern.
Die Enttäuschung ist die Wurzel für das Album Off The Record. Natürlich hat sich Bartos nach seinem Weggang von Kraftwerk erst einmal richtig ausgetobt, hat mit Johnny Marr, dem Gitarristen der Smiths, und Bernard Sumner, dem Sänger von New Order, ein Album als Electronic eingespielt. Dazu drei Alben mit eigener Musik. Doch erst jetzt gelingt ihm etwas, auf das viele gewartet haben: Eine Art Nachfolge-Album für Electric Café, das letzte Kraftwerk-Album, an dem Bartos als Songwriter beteiligt war. Nachtfahrt mutet da fast an wie eine Weiterführung von Neonlicht: Romantische Verlorenheit in einer urbanen Kulisse, untermalt von Klängen und Melodien, für die Bands wie Air und Daft Punk sicher einiges geben würden. Zeitlos modern und sehr hitverdächtig klingt das. Allein der Text ist banaler als die genialen Schlüsselwort-Kombinationen von Emil Schult (»Automat und Telespiel leiten heut die Zukunft ein / Computer für den Kleinbetrieb / Computer für das Eigenheim«), der bis in die Achtziger diverse Texte für die Band schrieb. Musica Ex Machina, Vox Humana oder Rhythmus holen den Kraftwerk-Fan dafür direkt vor der Haustür ab – Retromania für drei Generationen von Techno-Fans: Hier stimmt jede Vocoder-Nuance, sitzt jeder Sound aus der Analog-Synthesizer-Sammlung, die Bartos in seinem Keller mit der Zeit zusammengetragen hat.
Bei der Kraftwerk-Show im New Yorker Museum of Modern Art hätte es dafür Standing Ovations gegeben. Denn hier sind sie noch einmal, diese melancholischen Melodien, dieses Gefühl, dass die Zukunft endlich wieder so klingt, wie wir sie uns als Kinder immer vorgestellt haben. Karl Bartos hat mit Off The Record das beste Kraftwerk-Album seit über 25 Jahren aufgenommen.
Jürgen Ziemer
(Veröffentlicht in Die Zeit 12/2013)