Ein Text der im Juni 2011 im Rolling Stone erschienen ist. Es geht um die Sehnsucht von Rock-Fans nach Gefühl und Gemeinschaft und die Bands, die davon profitieren
Man könnte ja den Kunststudenten und Dichtertypen die Schuld geben: Bands wie Radiohead und Ja, Panik streben schließlich mit Intertextualität und digitalen Streichorchestern nach Meisterwerken, wo es früher nur um 2’50 Minuten Spaß ging. Die Medien klatschen Beifall – und vergessen, dass es sich bei den Feuilleton-Darlings um ein relativ überschaubares Segment handelt. Nicht jeder Musikkäufer und Konzertbesucher sucht die intellektuelle Herausforderung. Viele wünschen sich einfach nur ein paar ehrliche Songs, die das eigene Weltbild erhalten – und keinesfalls hinterfragen, oder gar zerstören. Die Sehnsucht nach Affirmation und Gemeinschaft spielt im Pop eine immer stärkere Rolle. Dabei ist es relativ egal, ob die Musik nach Schlager klingt oder nach Punk. Hauptsache, die Texte legen einen starken Arm um die Schultern des Hörers und sagen: Ich verstehe dich und deine Probleme.
Der Blueprint für diesen Deutsch-Rock mit der Tendenz zum sentimental Pathetischen sind die Böhsen Onkelz. Als Teenager standen sie bekanntlich der Skinheadszene nahe, schrieben etliche Nazi-Punk-Songs, weshalb sie später von fast allen größeren Medien boykottiert wurden. Die Band verkaufte trotzdem Millionen von Platten und hatte sieben Nummer-eins-Alben. Nicht nur wegen ihres derben Hardrocks, sondern weil sich die Fans in den oft beleidigt-märtyrerhaften Texten aufgehoben fühlten.
Das Ende der Onkelz hinterließ eine Lücke, in die Plattenfirmen schon seit einiger Zeit verstärkt investieren: Musik von ehrlichen Kerlen, deren Lieder sich weniger aus den Mythen des angloamerikanischen Rock ’n‘ Roll speisen, als aus der sepia getönten Sehnsucht nach Heimat und Vertrautheit. Zum Beispiel Haudegen, aus dem Berliner Stadtteil Mahrzahn-Hellersdorf. Die Band um die tätowierten Zwei-Zentner-Männer Hagen Stoll und Sven Gillert sieht aus, als würde sie aus Hufschmieden, Stallknechten und Mähdrescherfahrern bestehen – mehr pittoreske Bodenständigkeit geht nicht. Aus rauen Kehlen lamentiert man zu überwiegend unverstärkter Rockmusik über die Härte der Zeiten und die Lieblosigkeit der Frauen. Früher machten Haudegen in HipHop: Stoll rappte und produzierte unter dem Namen Joe Rilla, unter anderem für das Hart-und-Zotig-Label Aggro Berlin. Doch von gekonnten Wortspielen ist bei den Berlinern wenig zu hören: „Die Zeiten sind rau, die Moral liegt getreten am Boden. Bei einem Blick aus deinem Fenster raus, wirst du belogen und betrogen“. Das klingt sehr schlicht und weinerlich, aber möglicherweise wird es genau deswegen vielen gefallen. Haudegen sind eine Art Street-Version der Kuschelmonster von Pur.
Auch Der Graf ist kein Freund von allzu komplexen Texten, die Musik seiner Band Unheilig ist manchmal sogar gefährlich nahe am Schlager. „Große Freiheit“ wurde trotzdem zum erfolgreichsten deutschen Album des letzten Jahres weil der Sänger Bernd Heinrich Graf nicht aussieht wie ein gefönter Vorabendserien-Darsteller. Den ehemaligen Optiker mit Gothic-Vergangenheit umflort ein sinister romantisches Charisma, er ist „schräg“ und handfest zugleich. So fühlen sich auch viele der Fans, die fest im Berufsleben stehen, aber dabei auf eine popkulturelle Vergangenheit zurückblicken. Wenn Der Graf zum halbdunklen Sisters-Of-Mercy-Sound schreit und murmelt, wird selbst ein so banaler Text wie „Geboren um zu leben“ zu einer Hymne, bei der sich das Publikum im Konzert an den Händen fasst oder gerührt ins Taschentuch schnäuzt: „Ich stell‘ mir vor, dass Du zu mir stehst und jeden meiner Wege an meiner Seite gehst“.
Es geht im aktuellen Deutsch-Rock nicht um exotisch entrückte Pop-Idole sondern um Identifikationsangebote, um Geborgenheit in der Gemeinschaft der Fans. Die Südtiroler Band Frei.Wild strapaziert dieses Ideal allerdings bis über die Schmerzgrenze: Musikalisch aggressiv und inhaltlich nicht nur für Italiener beängstigend deutschtümelnd, übt man den Spagat zwischen dem Punk der Toten Hosen und dem beleidigt sein der Böhsen Onkelz. „Das Land der Vollidioten“, vom 2009 erschienen Album „Hart am Wind“ ist ein programmatisches Statement: „Das ist das Land der Vollidioten, die denken, Heimatliebe ist gleich Staatsverrat. Wir sind keine Neonazis und keine Anarchisten, wir sind einfach gleich wie Ihr … von hier“. Dazu sollte man allerdings wissen, dass Sänger Phillip Burger bis Oktober 2008 der rechtspopulistischen Südtiroler Partei Die Freiheitlichen angehörte und wohl eher aus Image-Gründen dort austrat. Mit dem im letzten Jahr erschienen Album „Gegengift“ erreichten Frei.Wild Platz 2 der deutschen Albumcharts. „So lange sie sich benehmen“, sagt Phillip Burger, sind rechtsradikale Skinheads auf den Konzerten der Band willkommen. In der Bandliste des Nazi-Portals Thiazi werden Frei.wild mit Diskografie und Songtexten gelistet, neben vollends braunen Kollegen wie Störkraft.
Eher rührend doof ist dagegen die Band Riefenstahl, die ihr neues Album „Triumph“ nennt und offensichtlich gerne so doppelbödig böse wäre wie Rammstein. Dass „Triumph des Willens“, von der Regisseurin Leni Riefenstahl, der Inbegriff des Nazi-Propagandafilms ist, gehört wohl zum Kalkül. Wenn Sänger Jens „Centurio“ Esch seine Texte im pathetischen Heldentenor intoniert – „Es ruft zum letzten Tanze emphatisch Riefenstahl“ – dann möchte man tatsächlich nichts lieber als Radiohead hören und in den rätselhaften Texten von Ja, Panik versinken. Denn wenn Deutsche zu sehr fühlen und zu wenig denken – dann ist bisher selten etwas Gescheites dabei heraus gekommen.
Jürgen Ziemer