Kritiker und Musiker lieben die Band Mutter – ihre Platten haben sich trotzdem nie verkauft. Nun erscheint „Der Traum vom Anderssein“
Die Songs der Berliner Band Mutter lassen einen nie kalt, sie bringen etwas zum Klingen, das tiefer sitzt als jede Vernunft. Ich schäme mich Gedanken zu haben die andere Menschen in ihrer Würde verletzen: Bereits der Titel des Debütalbums von 1989 provoziert Bilder und Fragen. Einer der Songs heißt Alt und schwul, und es geht da um ein Leben im Abseits, allein und in eingenässten Bettlaken. Was zunächst klingt wie eine homophobe Provokation, ist der genaue Blick in das Leben eines alten Mannes: „Und die Kinder im Park lachen über ihn.“ Dazu dröhnt eine Musik, als hätte man Velvet Underground und The Stooges zusammen in einen Betonmischer geworfen und obendrauf noch ein paar rostige Nägel.
So viel ist klar: Die Musiker um den Sänger und Songschreiber Max Müller wollen nicht mitsingen im Kanon der deutschen Popkultur. Ihre Plattenfirma haben sie Die eigene Gesellschaft genannt und wenn das Geld für ein neues Album fehlt, dann geben sie eben 99 Schuldverschreibungen heraus, in Form von aufwendig gestalteten Kaltnadelradierungen; Müller ist auch als Maler tätig. Das Album Trinken Singen Schießen wurde 2009 auf diese Weise komplett finanziert.
Gut 30 Jahre geht das nun schon so, von der Urbesetzung sind nur noch Max Müller und Schlagzeuger Florian Koerner von Gustorf übrig; seit einigen Jahren „neu“ dabei sind Julie Miess, Michael Fröhlich und Olaf Boqwist. Und noch immer ist jede Veröffentlichung mehr als einfach nur Text und Musik, wie es der Titel des vorigen Albums mit Understatement behauptet.
Nun ist wieder ein neues Album fertig: Der Traum vom Anderssein. Und wieder setzt der Titel ein Karussell voller Assoziationen in Gang. „I’m not like everybody else“, sangen die Kinks 1966, als der Siegeszug von Pop, Individualismus und Diversität begann, der kulturell, politisch und sexuell Andersdenkenden eine Heimat gab. 50 Jahre später sind viele der großen Träume zu selbstgenügsamen kleinen Fluchten verkommen. Zu einem wärmenden Licht im eigenen Kopf, das oft nur der eigenen Distinktion dient, während draußen wieder Stürme übers Land ziehen. Davon handelt auch der herausragende Titelsong des neuen Mutter-Albums: „Hörst du zu, das geht an dich“, fragt Max Müller da gleich zu Beginn. „Die Zeit wird langsam knapp, die Angst, die dir im Nacken sitzt, ist bedrohlich und sehr real. Verdrängung heißt das Gegengift, das schon so lange wirkt.“ Und dazu heulen die Verstärker, dröhnen die Trommeln.
Netter Bio-Papa
„Wir leben in einer Zeit, in der jeder individuell sein möchte und anders – im Rahmen dessen, was möglich ist. Doch man muss sich damit abfinden, dass die meisten Menschen eher gewöhnlich sind“, sagt Müller. Der 53-Jährige nimmt sich davon nicht aus: „So verrückt, wie manche mich gern hätten, bin ich nicht. Ich mache auch die normalen Sachen.“ Verglichen mit dem spindeldürren, blondgefärbten Teen-Punk, der 1982 mit den Honkas ein Lied Für Fritz schrieb und danach bei der Band Campingsex die Musiker der ersten Mutter-Besetzung einsammelte, wirkt Müller heute tatsächlich nicht mehr so extrem anders. Wenn man ihn mit seinem zehnjährigen Sohn sieht, könnte er als netter Kreuzberger Bio-Papa durchgehen. Doch kaum steht Müller auf einer Bühne, fängt er an mit dem ganzen Körper zu performen, schreit, bis die Stimme kippt, wiederholt Worte so lange, bis der Sinn verloren geht. Ist das kein Widerspruch? „Ich sehe das eher als Unterhaltung, nicht als Rebellion. Es ist ja ziemlich einfach, etwas Abseitiges oder etwas Anderes zu machen. Ich möchte nicht die 20. Blumfeld-Band sein, sondern aus mir heraus selbst etwas entwickeln.“ Dabei waren es Mutter, die in den 90ern Blumfeld inspiriert haben, und nicht umgekehrt. Jochen Distelmeyer schwärmt noch heute in Interviews von der Band.
Zu Recht. Die Protagonisten von Müllers Texten sind uns fremd, doch ihre Geschichten berühren auf eine seltsam intime Weise. Als hätte man in der U-Bahn ein fremdes Fotoalbum gefunden. „Viele Lieder bekommen im Nachhinein eine neue Bedeutung“, sagt Müller. „Die Leute stellen sich etwas anderes vor als ich und das finde ich toll. Mein Ziel ist eindeutig zu formulieren, ohne verquaste Poesie, doch durch diese Klarheit ergibt sich auch eine Abstraktion.“
Die Kritiker jubeln von Album zu Album lauter, normale Rock-Fans können mit Mutter allerdings wenig anfangen. Vielleicht weil diese Songs niemanden in den Arm nehmen und trösten. Im Gegenteil. „Unsere Platten haben sich immer schlecht verkauft“, sagt Müller. „Am Anfang glaubte ich noch, wir könnten einfach alle Freaks innerhalb Deutschlands einsammeln, doch das funktioniert nicht. In Berlin und Hamburg ist jedes Konzert voll, aber in Bielefeld hat kein Mensch je von uns gehört.“
Kein Grund, klein beizugeben und die Musik marktkonformer zu gestalten. Nicht einmal in der Indie-Nische will es sich Müller gemütlich machen. Nach Hauptsache Musik (1994), dem erfolgreichsten Album der Band, hätten die Berliner einfach weitermachen können, mit wohlklingenden optimistischen Songs wie Die Erde wird der schönste Platz im All. Haben sie aber nicht. In Antonia Ganz’ Filmdoku Wir waren niemals hier (2005) über die Nichtkarriere von Mutter verzweifeln ehemalige Weggefährten wie Alfred Hilsberg und die frühere Managerin Gundula Schmitz an dieser Haltung. Auch Michael Fröhlich, seit 2007 Bassist bei Mutter, kann der Ausnahmestellung von Mutter nicht nur positive Seiten abgewinnen: „Es scheint allgemein akzeptiert, dass diese Band für sich alleine arbeitet und schon so lange in ihrem Urschlamm festsitzt.“ Müller will das so nicht stehen lassen: „Ich seh das nicht als festsitzen. Das ist ein Weg, den hat man selber gewählt, das Anderssein hat seinen Preis. Aber man sucht sich das ja nicht aus, wenn es echt ist. Was ich mache, mag eine komische Idee sein, aber die war schon immer da: mit einfachen Mitteln etwas Großartiges herstellen.“
Der Traum vom Anderssein ist ein harter Brocken. Menschen werden alt und dann sterben sie dehnt einen einzigen dröhnenden Akkord mehr als acht Minuten lang, bis einem fast die Ohren platzen. Nur wenn man ganz genau aufpasst, ist im Hintergrund Müllers Stimme zu hören. Eine Absage an alle Textexegeten und ein freundliches Hallo in Richtung der ähnlich brachial operierenden New Yorker Band Swans. Allein das melancholisch zarte Fremd setzt auf die Kraft der Worte. „Es geht nicht darum, alles zu verstehen“, sagt Müller. „Ich möchte den Hörern ein Geheimnis überlassen, etwas, das sie selber ergänzen müssen. Die Lieder von Mutter werden in der Regel auf die Texte reduziert: ‚Ah, genial, unglaublich, dazu musst du mir mehr erzählen.‘ Diesmal sollte nicht jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werden, die Stimme funktioniert wie ein Instrument, das zur Musik improvisiert.“
Wuchtig nach vorn
Der Traum vom Anderssein ist aber auch das bisher musikalischste Album von Mutter. In nur drei Tagen im Studio von Schneider TM aufgenommen, ist es der Versuch, den Freiheitsbegriff des Jazz umzusetzen mit den Mitteln des Rock. Dabei entsteht gelegentlich eine geradezu schamanische Musik, die wuchtig nach vorn drängt, sich aber nie in Soloexkursionen verliert.
Viele Titel sind Rätsel, die von den Songs nur selten beantwortet werden. Menschen werden alt und dann sterben sie – das könnte eine Meditation über die verzweifelte Sehnsucht der Menschen nach Sinn und Größe sein. Doch Müller behauptet, der von dröhnenden Gitarren fast komplett weggeblasene Gesang sei ihm spontan beim Singen eingefallen und nun erinnere er sich nicht mehr an den Text. „Es war ein Experiment. Die Regeln des Rock finde ich wahnsinnig fad, das sind immer die gleichen Floskeln.“ Die Schroffheit, die Mutter dem entgegensetzen, funktioniert wie ein Schutzschild gegen Ironie und Zynismus. „Songs, die sich über andere lustig machen, so etwas haben wir nicht. Manche Stücke sind vielleicht schroff und finster, aber das ist eben auch ein Gefühl, das man hat.“
Wie die Erzählungen von Raymond Carver sind auch die Lieder von Mutter Momentaufnahmen aus einer Welt, die weder gerecht ist noch liebevoll. Man hätte sich deshalb mehr und besser verständliche Texte gewünscht. Aber der Traum vom Anderssein, dem Müller und Konsorten anhängen, ist weder Wunschkonzert noch Karrieresprungbrett. Tex Rubinowitz, Autor und Freund der Band, hat wahrscheinlich recht, wenn er schreibt: „Gott gibt die Nüsse, aber knacken müsst ihr sie selbst.“ Auch nach 30 Jahren gilt: Keine Band ist wie Mutter. Nicht mal ansatzweise.
Jürgen Ziemer
Der Traum vom Anderssein Mutter Die eigene Gesellschaft/Hanseplatte
Veröffentlicht in Der Freitag 11/2017