Jazz galt lange als betulich, jetzt sind experimentelle Spielarten wieder angesagt. Mathias Modica will sie jenseits der Szene-Clubs bekannt machen
In seinen besten Zeiten stand Jazz immer für Experiment und Zukunft. Tomorrow Is The Question! nannte der Free-Jazz-Pionier Ornette Coleman 1959 ein prophetisches Album, um noch im selben Jahr The Shape of Jazz To Come nachzuschieben. Die 60er und 70er Jahre waren eine Blütezeit des Jazz: Gesellschaftlicher Wandel und der Kampf um Bürgerrechte gingen einher mit radikal neuen musikalischen Formen und Klangfarben. Leider verpasste das Genre dann dummerweise eine Abzweigung und landete bei den betulichen Standards des Great American Songbooks, an dessen feinen Nuancen sich ein graumeliertes Publikum fortan delektierte. In den 90ern wurde es noch schlimmer. Jazz sollte zurück auf den Dancefloor – und geriet dabei zum Karneval der Zitate und Kostüme. „You gotta hear Blue Note, to dig Def Jam“, raunten ziegenbärtige Zeitgeister und servierten einen lauwarmen Lifestyle-Cocktail namens Acid Jazz. „Das war fast alles schrecklich“, erinnert sich der Musiker, Labelbetreiber und DJ Mathias Modica. „Da ging es nicht um Jazz, sondern darum, ‚jazzy‘ zu sein, auf eine bestimmte Art tanzbar. Ob ein Solo gut war, spielte bei Acid Jazz keine große Rolle.“ Modica möchte mehr Risiko und Abenteuer in den Jazz zurückbringen – und er weiß, was er tut, wenn er jetzt den zweiten Teil seiner Compilation-Reihe Kraut Jazz Futurism veröffentlicht.
In den 90ern studierte der Sohn des Komponisten Robert Maximilian Helmschrott an der Münchner Hochschule Jazzklavier, bis ihm klar wurde, dass die wichtigsten Neuerscheinungen aus der House- und Techno-Ecke kamen. Also brach Modica sein Studium ab und gründete 1999 mit Jonas Imbery das weltweit geschätzte Elektro-Label Gomma, ein paar Jahre später folgte das gemeinsame Musikprojekt Munk. Im winzigen Hinterhofstudio des Duos gaben sich Gäste wie Princess Superstar, Asia Argento oder James Murphy das Mikro in die Hand. Es war cool as fuck! Aber das ist alles schon wieder Geschichte.
Der Truckerkappen-Träger Modica lebt jetzt in Berlin und hat mit seinem neusten Label Kryptox den Jazz wiederentdeckt. Ein Jazz made in Germany, aber eingespielt von Musikern aus aller Welt, die sich in Städten wie Berlin oder München zufällig gefunden haben. Das „Kraut“ im Namen der Compilation steht aber auch für den Experimentierwillen des Krautrock. Im „Futurism“ spiegelt sich die Hoffnung, nah dran zu sein an den Future Sounds of Jazz, die in England und den USA schon seit Längerem eine Renaissance erleben. Musiker wie Kamasi Washington, Shabaka Hutchings oder Makaya McCraven experimentieren dort mit himmlischen Gospel-Chören, rauen Dubstep-Elementen oder freien Improvisationen mit Harfe und Cello. Selbst die greisen Helden des Free Jazz finden derzeit wieder ein neues Publikum: „Ich war vor zweieinhalb Jahren bei einem Konzert von Pharoah Sanders – das war Wahnsinn!“, begeistert sich Modica. „Da waren tausend Leute, die Hälfte davon unter 25 Jahren. Und nicht nur mir kamen die Tränen, sondern den kleinen Mädchen um mich herum auch.“
Jazz-Clubs wie das Donau 115 in Berlin platzten vor Corona aus allen Nähten, weil sich ein blutjunges Publikum darin zusammenquetschte, um Konzerte zwischen Bebop und Experiment zu erleben. Wer hier über 40 ist, fällt auf. „Kultur ist immer Reaktion und Gegenreaktion“, glaubt Modica, der das neue Interesse an Jazz auf die jahrzehntelange Dominanz von Techno und Elektronik zurückführt. Musik, die vor allem von Technikern und Toningenieuren gemacht wird – und natürlich weiterhin ihre Berechtigung hat. Doch nach 30 Jahren Techno gibt es längst zu viele überbezahlte DJs, auch die endlosen Schlangen und demütigenden Gesichtskontrollen vor exklusiven Clubs wie dem Berghain werfen die Frage auf: Ist es nicht wirklich langsam Zeit für neue Musik- und Club-Formen?
Kraut Jazz Futurism Vol. 2 ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. Das Frankfurter Contrast Trio weckt mit der Sängerin Insa Rudolph Erinnerungen an Portishead. Ihr filigran hüpfendes In The Bottle spielt aber auch mit einer fragilen elektronischen Form von Modern Jazz. Deutlich wuchtiger und muskulöser klingen die Leipziger KUF. Wie junge Hunde toben die Musiker in Only When I Sleep um das titelgebende Sample herum. Noch besser ist 360° Of Harmony von Spiritual Enhancement Center, ein Kollektiv von Musikern aus acht Ländern, die sich in Berlin regelmäßig zu fast schon rituellen Sessions treffen. Ein psychedelischer Jam, schwerst beeinflusst vom Miles Davis der frühen 70er, aber auch von Daevid Allens Hippie-Jazz-Kommune Gong. Ebenfalls grandios – aber purer Krautrock im Sinne von Can – ist der Beitrag der Hamburger Band Love Songs. Kölner Straße wird getragen von einem meditativ rollenden Rhythmus, über dem wie Polarlichter sphärische Klänge leuchten. Beeindruckend! Doch die Virtuosität und Radikalität, die sich derzeit auf US-Labels wie Brainfeeder oder International Anthem austobt, wird nur selten erreicht. Free Jazz ist gar nicht zu hören – das Genre war dem Kurator noch zu riskant: „Ich habe gelernt, dass ich Brücken bauen muss, um extravaganter werden zu können.“
JÜRGEN ZIEMER
Info
Mathias Modica presents Kraut Jazz Futurism Vol. 2 Kryptox / K7! Records