Vögel, Maden, chemische Prozesse – am Werk von Dieter Roth wirkten viele mit. Eine Sporensuche.

Eine schneeweiße Gründerzeitvilla, davor ein Park mit altem Baumbestand, die Alster nur wenige Steinwürfe entfernt – in Harvestehude ist das großbürgerliche Hamburg ganz bei und unter sich. Erstaunlich, dass sich ausgerechnet hier, in der Abteistraße 57, seit Jahrzehnten eine riesige Sammlung mit Werken des Kunst-Anarchisten Dieter Roth versteckt. Kein Schild mit Öffnungszeiten am Eingang, kein einladendes Banner, das vor der Fassade flattert. Nur einmal die Woche, freitags, werden Besucher durch die hohen Räume geführt – in kleinen Gruppen und nach Voranmeldung. Zuletzt war auch das nicht mehr möglich. Covid-19, Sie wissen schon.

Der 1930 in Hanover geborene und 1998 in Basel verstorbene Roth fand Schönheit, wo andere sie nicht mal suchen. Er verbrachte viele Jahre in Island, Spuren der dortigen Natur und Landschaft finden sich oft in seinen Bildern und Objekten: erdige Farbtöne, der Rost alter Fischerkähne, verwitterter Holzlack. Die berühmten Karnickelköttelkarnickel ähneln zwar in Form und Größe den Goldhasen von Lindt – den Untertitel Scheisshase tragen sie dennoch zu Recht. Klein geschredderte Bücher von Hegel oder Walser stopfte Roth in Naturdärme, gab ordentlich Schmalz und Gewürze dazu und nannte das Ergebnis Literaturwurst. Sein Theaterstück Murmel Murmel – alle elf Figuren heißen Murmel, und das Einzige, was sie von sich geben, ist „Murmel“ – war an der Berliner Volksbühne, in der Inszenierung von Herbert Fritsch, ein Kassenknüller.

Heute rangiert der zweifache Documenta-Teilnehmer im internationalen Kunst-Ranking unter den Top 100. Doch an die Ewigkeitsversprechen und hehren Ideale der Kunst hat Dieter Roth nie geglaubt – im Gegenteil. Jedes einzelne seiner oft aus Schokolade bestehenden Werke ist ein Dokument der Vergänglichkeit, konservierende Maßnahmen, wie in Museen üblich, lehnte er ab. Auch im Dieter Roth Museum rotten Türme voller Selbstporträts aus Vogelfutter, Zucker und Schokolade langsam vor sich hin. Bis sie irgendwann unter ihrem Gewicht zusammenstürzen.

Der Anwalt Philipp Buse begeisterte sich bereits in den 1970er Jahren für die organische Verfallsästhetik dieser Kunst. Er überließ Roth zunächst den Keller seiner Kanzlei als Atelier – und im Lauf der Jahre das ganze Haus. Die Hamburger Kulturinstitution Kampnagel ermöglicht jetzt – im Rahmen ihres alljährlichen Internationalen Sommerfestivals – einen ganz besonderen Einblick in die Sammlung. Künstler*innen wie Felix Kubin, Annika Kahrs, Nika Son, Wolfgang Müller und Michaela Melián haben Audioguides produziert, die ab dem 5. August Besucher durch die vier Stockwerke begleiten.

Michaela Melián, Kunstprofessorin an der Hamburger HFBK und Mitbegründerin der Band F.S.K., sagt, auch sie habe nicht gewusst, dass es in Hamburg ein Dieter Roth Museum gibt. In ihrem gemeinsam mit Wolfgang Müller produzierten Beitrag erkennt Melián neben Humor, Anarchie und Ambivalenz in Roths Werk auch „eine Schönheit, die er im Alltäglichen findet, und die vielleicht eine Klammer zum Pop bildet“. Den Pop-Aspekt hat Wolfgang Müller schon 2006 mit Freunden wie Andreas Dorau und Stereo Total herausgearbeitet, auf dem rundum gelungenen Album Das Dieter Roth oRchester spielt kleine Wolken, typische Scheiße und nie gehörte Musik. „Lache wider Willen! Lache wider Welt!“, singt Müller im Beitrag für Kampnagel durchs Telefon, als sei’s ein Text seiner Dada-Band Die Tödliche Doris. „Dieter Roth hat die Grenzen der Kunst so weit geöffnet, dass jeder mitmachen konnte. Vögel, Maden, Pilze oder chemische Prozesse – alle sind eingeladen, an diesem Werk mitzustricken“, findet Michaela Melián.

Für die Anwälte der Kanzlei, die sich in den ersten Roth-Jahren noch in der Abteistraße befand, bedeutete das eine Koexistenz mit den Raum querenden Ameisen und hinter Glas dösenden Maden. Der Künstler war oft persönlich anwesend und platzierte seine Werke wo und wie es ihm gefiel. Ein 1992 geplanter Neubau des Museums an der Außenalster scheiterte, weil der Künstler auf dem Grundstück ein halb verfallenes Kutscherhäuschen entdeckt und umgehend als „Schimmel- und Schokoladenlabor“ annektiert hatte. 2004 wurde das marode Gebäude abgerissen – Nachbarn hatten aus Angst vor Keimen geklagt.

Dass sich das Kampnagel-Sommerfestival in diesem Jahr für Dieter Roth interessiert, liegt nicht zuletzt an dem Theaterstück Das Weinen (das Wähnen), das Christoph Marthaler nach Texten von Roth inszeniert hat. Die Schauspieler hätten „ordentlich Druck auf der Sprechblase“, verspricht die Ankündigung im Sound des Künstlers, der von sich sagte: „Ich glaube nicht, dass ich als Maler angefangen habe. Ich habe eigentlich als Dichter angefangen.“ Eine besonders interessante Edition lagert in Hamburg in einer gelben Munitionskiste aus Holz. Die stilisierten Texte sind auf Stanniolpapierbögen gedruckt, in denen sich jeweils die Reste eines Mittagessens befinden. Zu riechen gibt es heute nichts mehr, „der Verwesungsprozess ist abgeschlossen“, sagt die Kuratorin Kathrin Haaßengier, die Besucher chronologisch von oben nach unten durchs Haus führt.

Hübsch, wie elegant die frühen grafischen Werke im lichten Obergeschoss aussehen, zwischen Bauhaus-Möbeln und sanft geschwungenen Vasen und Schalen aus Murano-Glas. Roth duldete in „seinem“ Haus keine anderen Künstler. Im Souterrain befindet sich immer noch sein Wohnatelier, unverändert, mit allem kreativen Chaos. Das selbst gebaute Bett wartet nur darauf, dass ein erschöpfter Künstler die Wolldecke zurückzieht und sich ein Nickerchen gönnt, so wie Roth das gerne tat.

Das Keller-Duo zeigt die spielerische und anarchische Seite des leidenschaftlichen Musikliebhabers. Die Assemblage aus den 80ern ist eine Musikmaschine mit zwei Tastaturen und zahlreichen Kassettenrekordern, die aussieht wie eine Leihgabe des autonomen Zentrums Rote Flora. „Dieter Roth und sein Sohn Björn haben damit oft in den Kellern von Museen Konzerte gegeben“, weiß die freundliche Kuratorin, während im Hintergrund sperrige Klaviertöne und Stimmen aus einem Lautsprecher tropfen. „Ursprünglich konnten Zuschauer auch mitspielen oder Kassetten rausnehmen. Heute ist das nicht mehr möglich, die Arbeit ist unheimlich fragil.“

Die Installation Tibidabo-Hundezwinger 24 Stunden Gebell ist dagegen ein harter Brocken. Eine berührende Auseinandersetzung mit dem Leid in einem Hundeasyl in Barcelona, dokumentiert auf 1.000 Fotos, 1.600 Zeichnungen und den titelgebenden 24 Stunden Gebell. „Ich war danach krank“, sagt Roth in einer Dokumentation der Regisseurin Edith Jud. Wenn sie nicht innerhalb eines Monats weitervermittelt werden, wartet auf die Tiere der Tod.

Roth hielt das Jaulen und Wimmern der Hunde zunächst für Musik, die er aufnehmen wollte, um damit zu komponieren. Umso größer war sein Erschrecken: „Er rief seine Söhne dazu und bat sie Fotografien von den Hunden zu machen, damit jedem Tier noch einmal etwas Aufmerksamkeit und eine Würdigung geschenkt wird“, sagt Haaßengier. Roth selbst zeichnete wie besessen, Blatt für Blatt, 1.600 Porträts der Hunde, die er Selbstporträts nennt. Das Leben als Qual, trotz seines wilden Humors litt der Künstler unter Depressionen.

„Einmal gingen wir im Winter zusammen durch die dunklen Straßen Hamburgs“, erinnert sich Vivian Bach, die zum Vorstand der Dieter Roth Foundation gehört. „Man sieht hier oft Lampen im Fenster stehen und denkt: Oh, wie schön! Dieter Roth hatte auf das vermeintlich Schöne einen anderen Blick: ‚Hinter jedem Fenster brennt ein Fegefeuer!‘, sagte er damals.“

Vielleicht hat ja auch das Dieter Roth Museum eine reinigende, Transzendenz fördernde Funktion, erst recht in einem exklusiven Viertel wie Harvestehude. Dem Künstler dürfte das herzlich egal sein: „Wenn sich das Leben richtet nach dem Falle wieder auf, hab ich die Falle schon gesichtet und haue dem Leben eins drauf“, schreibt er in dem Kurzgedicht Das Leben.

Jürgen Ziemer

CategoriesAllgemein