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„Metal-Schlager“ nennt Rammstein-Sänger Till Lindemann die Songs auf seinem neuen Soloalbum. Ach, wenn es nur das wäre
Hier ist er wieder, der hässliche Deutsche. Verkleidet als Monster, halb Magier, halb Schwein, stapft Rammstein-Sänger Till Lindemann durch das erste Video seines Soloprojekts Lindemann. Fast zwei Millionen Klicks gab es für Praise abort auf Youtube – und das innerhalb weniger Tage. Es ist ein zynisches Loblied auf die Abtreibung. Bestmeinend: ein surreales Theater der Grausamkeiten. Lindemann übernimmt fast alle Rollen, nur sein Kapellmeister, der schwedische Death-Metal-Musiker Peter Tägtgren, und vier Ballerinas stehen ihm zur Seite. Es wird animalisch onaniert, obszön gerammelt, klassisch getanzt und sadistisch geprügelt. Nach dem ganzen „I hate my life and I hate my wife and I hate myself“-Geschrei, nach Gitarrenwänden, so dunkel wie eine totale Sonnenfinsternis, rollen die Ballerinas in einem Kinderwagen ein Bolzenschussgerät heran. Lindemann, der Schweinemagier, setzt einer ebenfalls von Lindemann verkörperten wimmernden Schweinefrau die Waffe an den Kopf – und drückt ab.
Die meisten Songs des in dieser Woche erscheinenden Albums Skills in pills stehen Praise abort in Sachen Drastik kaum nach. Till Lindemann singt ausschließlich in Englisch, doch es ist das teutonischste Englisch, das man sich vorstellen kann. Irgendwo zwischen dem „Come here, Schweinehund!“, das man von Nazis aus alten Hollywoodfilmen kennt, und jenem selbstgerechten mauligen Denglisch, mit dem deutsche Urlauber im Ausland oft ihr Recht einfordern.
Was hat sich Lindemann bloß dabei gedacht? Es lief doch alles so gut – nicht nur was Plattenverkäufe und Ticketumsätze von Rammstein angeht: Das Magazin der Süddeutschen Zeitung widmete der Band 2012 eine 30-seitige Reportage, praktisch das gesamte Heft. Die Frage, ob Rammstein Nazis sind, war vom Tisch – alles nur Spaß! Im Ausland ist die Band ja schon eine ganze Weile so beliebt wie sonst nur noch Kraftwerk. Das Martialische und das Technische nimmt man den Deutschen immer ab.
Vor zwei Jahren eroberte Lindemann mit dem Lyrikbändchen In stillen Nächten die Herzen weiterer Feuilletonisten. Lindemann, der gelernte Korbflechter und Sohn des Kinderbuchautors Werner Lindemann, schien angekommen. Da war er also, der neue Klaus Kinski!
Aber jetzt sitzen Till Lindemann und sein Kumpel Tägtgren erst mal im Berliner Soho House, da wo auch Madonna gerne absteigt. Gelangweilt lümmeln die beiden Musiker an einem endlos langen Konferenztisch. Business as usual. Obstschale, Blumenstrauß, Softdrinks, überall Assistentinnen mit Notebooks, vor der Tür wacht ein Bodyguard. Nur die beiden Musiker sehen nicht so aus, als würden sie in dieses holzgetäfelte Ambiente gehören. Tägtgren wirkt wie ein in die Jahre gekommener Biker: lange fettige Haare, schwarze Lederweste und ein doppelt gezwirbelter Bart, dessen Enden wie Zündschnüre vom Kinn baumeln. Lindemann lässt den galant brutalen Macho raushängen, die rotblonden Strähnen seiner Trendfrisur fallen ihm ins narbige Gesicht. Ja, so hatte man ihn sich vorgestellt. Wir reden englisch miteinander – eine von vielen Bedingungen für das Zustandekommen des Interviews.
„Bisher mochte niemand das Album“, sagt der zwei Meter hohe Till mit dezent lauerndem Unterton, „alle haben es gehasst.“ Ach, warum denn? „Keine Ahnung“, sagt er, „der Gesang ist auf Englisch, manche kritisieren meinen Ausdruck und Akzent. Einer meinte, ich würde Pennälerlyrik schreiben-“ Nach den Feuilletonlobeshymnen ist so etwas natürlich ein herber Rückschlag. Aber warum singt er überhaupt auf Englisch, wo sein Markenzeichen doch das Deutsche und allzu Deutsche ist? „Ich habe mit Deutsch begonnen und als erstes einen sehr traurigen Song aus meinem Gedichtbuch ausgesucht“, behauptet der Sänger. Tägtgren habe dazu dann eine Art Polka gespielt, weil er den traurigen Text nicht verstanden hat. „Deshalb änderte ich meine Haltung und schrieb die Texte auf Englisch, so dass Peter versteht, was ich singe.“ Das klingt komplett ausgedacht.
Das Album Skills in pills ist – wie auch von Rammstein gewohnt – eine Ansammlung von Provokationen. Allerdings eine ganze Spur derber, gemeiner und dumpfer. Ein schwüles Treibhaus männlicher Fantasien. Da werden in hellen Vollmondnächten Frauen geangelt, was witzig gemeint ist, wie so vieles auf diesem Album. Aber wer lacht über diesen menschenverachtenden Humor? Mitglieder der Hells Angels und Bandidos? Oder doch eher die klassischen männlichen Verlierer, die sich an den Rand gedrängt fühlen und alles hassen, was ihnen fremd ist und möglicherweise überlegen? Erfolgreiche Frauen, zum Beispiel.
Ladyboy gipfelt in der Zeile: „Why should I love, when I can have fun with my breathing toy?“ Als ich den Musikern sage, dass ich den Text ziemlich widerlich finde, fallen sie in ein röhrendes Gelächter. Wer hat die Schwuchtel hier reingelassen? Als er wieder Luft bekommt, sagt Lindemann: „Es ist ein Rollenbild, eine Vorstellung. Peter hat mir Instrumentals geschickt und ich habe mich dazu in die passende geistige Verfassung begeben. Ich bin tiefer und tiefer in die Materie eingestiegen, habe mir all diese Ladyboy-Porno-Seiten angeschaut, mit all den Titten, Schwänzen und Löchern. Da steckt eine Menge Recherche dahinter, was in dieser Szene vor sich geht. Irgendwie mag ich diese Gedanken. Ich hab eine Stelle in meinem Kopf, die Futter braucht, damit ein Feuer lodert.“
Lindemann gefällt sich in seiner Rolle als Unhold und fieser Macker. Tagelang habe er sich im Netz rumgetrieben und nach Inspirationen gesucht. Und natürlich keinen Gedanken verschwendet über die Entstehungsgeschichte der Bilder, die sein Feuer zum Lodern bringen. Sehr gut gefallen haben ihm auch die „Feeder“, denen er mit Fat ein Denkmal setzt: „Männer mit einer Vorliebe für extrem fette Frauen. Diese Frauen liegen den ganzen Tag im Bett. Sie können nicht mal zur Toilette gehen. Deshalb brauchen sie einen Feeder. Das sind meist kleine, mickrige Kerle, die total verrückt nach diesen Frauen sind. Das ist eine ziemlich kaputte Fetischgeschichte.“
Der Text des Songs schwelgt in Details. Auch hier schlüpft der Sänger wieder in eine Rolle, schnüffelt und leckt in Hautfalten herum, um im Refrain zu jubilieren: „I don’t need mini, I like it fat!“ Die Musik dazu ist ein überwältigendes musikalisches Donnerwetter – „Metal-Schlager“ nennen die beiden Lindemänner ihre Songs. Weil sie melodisch sind und eingängig, aber von einer brachialen Wucht.
Der Sänger hat sich nun warm geredet und beginnt zu dozieren: „Die Deutschen mögen es, dominiert zu werden. Du brauchst nur Stiefel bis zur Hüfte und diesen ganzen SM-Scheiß.“ „Die Engländer stehen auch auf solche Sauereien“, gibt sein Kumpan Peter zu bedenken. Doch Lindemann hat schon längst die Achse nach Japan geschlagen. Er lobt den Sadomaso-Film Tokio Dekadenz – der auch auf arte lief – und behauptet: „Da passiert einiges, aus dem enormen Druck heraus, unter dem die Menschen dort leben. Wer im Alltag mächtig ist, will auf die Knie gehen und bellen wie ein Hund. Das hat trotzdem weniger mit Nationalitäten zu tun als mit dem, was man macht, weil es oft um seltsame Formen der Kompensation geht. Und eigentlich ist das ja eine schöne Sache: Bevor man Schlimmes tut und bei anderen Menschen großen Schaden anrichtet, sollte man sich besser niederknien und mal tüchtig anpissen lassen.“
Ganz falsch ist das nicht. Ein passendes Zitat von Oscar Wilde: „Everything in the world is about sex except sex. Sex is about power“, sage ich. „Sex sells“, antwortet Lindemann. Deshalb singt er also über „golden shower“ und den ganzen Kram? „Nein. Aber ohne Sex wären wir alle nicht hier. Es ist offenbar eine große Sache, über Sex zu singen. So ist das Leben. Es ist langweilig, Texte übers Essen zu schreiben. Aber beides gehört zum Leben – man muss essen, man muss ficken.“ Trotz, oder nein, dank provozierender Libertinage ist das Projekt Lindemann ein kalkulierter, mit viel Geld realisierter Rock-Porno. Zoran Bihać, der Regisseur von Praise abort, arbeitet als Werbefilmer für Spirituosenhersteller und Volksbanken, aber auch für Grönemeyer und die Sportfreunde Stiller.
Die Erwartungen der Plattenfirma brachte Bernd Dopp von Warner Music Central Europe so auf den Punkt: „Wir sind fest davon überzeugt, dass das Debüt von Lindemann das erfolgreichste Rockalbum des Jahres 2015 sein wird.“ Die Chancen dafür stehen gut, weil Skills in pills wie eine Freakshow funktioniert. Doch von der Zärtlichkeit, mit der John Waters einst seine Außenseiter inszeniert hat, ist hier nichts zu spüren. Wie ein sadistischer Zirkusdirektor treibt Lindemann die Pappkameraden seiner Songs durch die Manege. Unter dem Johlen des Publikums, gibt er sie zum Verspotten frei – sind ja nur Freaks. „Eier und Herz.“ Das Allerwichtigste, wenn es um die Produktion eines guten Albums, hat Till Lindemann am Ende unseres Interviews noch gesagt. Aber hier fehlt es nicht nur an Herz, es fehlt auch an Hirn.
Jürgen Ziemer
Dieser Beitrag erschien in Der Freitag Ausgabe 25/15.