F

Für das Gute, wider das Böse

Wenn es in den letzten Monaten eine kontroverse Künstlerin gab, dann sicherlich Lisa Eckhart. Doch abgesagt, boykottiert und gecancelt wird auch an anderen Fronten. Shitstorms liegen im Trend. Ein kleiner Überblick über aktuelle Ausweitungen der Kampfzonen

Foto: Franziska Schrödinger

Wer heute im Internet unterwegs ist sollte besser einiges aushalten können. Twitter und Facebook funktionieren wie hysterische News-Schleudern – immer haut irgend jemand eine neue, empörende Meldung raus: Die taz-Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah will die Polizei auf die Mülldeponie kippen! J.K. Rowling veröffentlicht transfeindliche Tweets!! Roger Waters macht Israel für den gewaltsamen Tod von George Floyd verantwortlich!!! Text bloß halb gelesen, Video nur kurz angespielt, aber gleich mal einen wütenden Kommentar drunter setzen. Details stören da nur, was zählt ist die Kommunikation der eigenen Empörung. Die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe, oder Minderheit, erzeugt immer häufiger ein identitätsstiftendes Wir-Gefühl.

 

Für Kultur-Veranstalter ist diese oft überraschend aufpoppende Erregungsbereitschaft das nackte Grauen. Wie damit umgehen, dass ein geplantes Konzert, eine Lesung oder ein Vortrag nicht nur Vorfreude auslöst, sondern auch eine sich unaufhaltsam steigernde Welle von Protesten? In diesem Zusammenhang fällt immer häufiger der Begriff „Cancel Culture“. Weil Festivals, Institutionen und Museen lieber mal eine Veranstaltung absagen, als die Künstler und Intellektuellen zu verteidigen, die sie vorher aus (hoffentlich) guten Gründen eingeladen haben. Ein besonders trauriges Beispiel für diese wenig mutige Haltung war 2018 die Ausladung von Feine Sahne Fischfilet aus dem Bauhaus in Dessau. Nazis hatten gegen die linke Band gepöbelt, die Stiftung fürchtete Störungen und entschied: „Politisch extreme Positionen, ob von rechts, links oder andere, finden am Bauhaus Dessau keine Plattform“. Alter Schwede, was da auf Facebook wieder los war.

 

Doch der heftigste Shitstorm der letzten Monate folgte auf die Einladung, Ausladung und erneute Einladung von Lisa Eckhart zum Hamburger Harbour Front Literaturfestival. Die Kabarettistin und Autorin liebt die Provokation, unterscheidet sich bereits optisch von ihren unauffällig gekleideten Kollegen. Ihr spöttisch süffisanter Blick hält die Balance zwischen aristokratischer Arroganz und laszivem: „Zu dir oder zu mir?“ Auf der Bühne trägt die platinblonde Eckhart fast ausschließlich den barocken Stil von Gianni Versace, meist zu hautengen Leggings und bizarr hohen Schuhen. Versaces modische Variationen des Medusa-Motivs erinnern sie an Freuds Behauptung, das Erstarren der Männer angesichts der Medusa sei nichts anderes als eine Errektion: „Was sonst?“, sagt Eckhart mit gekonnt blasierter Stimme, und schiebt ein maliziöses Lachen hinterher.

 

Nicht nur der Look der 28-jährigen Österreicherin ist außergewöhnlich. Ihre Comedy ist ein sprachlich virtuoser Tabubruch, der dem Publikum so lange den Boden unter den Füßen weg hämmert, bis es zögerlich beginnt, die eigenen Meinungen und Haltungen zu überprüfen. In der WDR-Sendung „Mitternachtsspitzen“ stellte sie 2018 augenzwinkernd die Frage, ob die MeToo-Bewegung nicht antisemitisch sei, weil es sich bei Weinstein, Allen und Polanski ja schließlich um Juden handelt: „Da haben wir immer gegen den Vorwurf gewettert, denen ginge es nur ums Geld, und jetzt plötzlich kommt raus, denen geht’s wirklich nicht ums Geld, denen geht’s um die Weiber, und deshalb brauchen sie das Geld“. Jüdische Männer als Opfer engagierter Frauen, die wiederum ebenfalls Opfer sind, nämlich von übergriffigen Männern. „Was ist das denn für ein Inzest, wenn ein Opfer sich an einem Opfer vergreift“, stöhnt die Eckhart am Ende ihres Vortrags. Der eine oder andere Zuschauer schluckte vielleicht kurz, aber danach legten sich alle brav in ihr Bett und am nächsten Morgen begann ein neuer Tag.

 

Doch wie in einem Horrorfilm schlummerte das Video „Die heilige Kuh hat BSE“ in den Tiefen des Internets einen ungesunden Schlaf – bis es anderthalb Jahre später zu neuem Leben erweckt wurde. „Lisa Eckhart raus aus den öffentlich-rechtlichen Medien“, forderte im April eine Petition, der sich jedoch nur 197 Menschen anschlossen. Immerhin tobte auf Facebook ein paar Tage lang ein lautes Geschrei und Geschimpfe, mit dem Tenor: „Lisa Eckhart halt deine Kackfresse“. Und wieder gingen einige Monate ins Land. Bis dann die Jury des Hamburger Harbour Front Literaturfestivals Lisa Eckharts Buch „Omama“ für den Wettbewerb um den besten Debütroman nominierte. Zu der geplanten Lesung im Club Nochtspeicher kam es jedoch nie. Es habe „Drohungen des Schwarzen Blocks der Antifa“ gegeben, raunte der Festivalleiter und Verleger Nikolaus Hansen im August, sprach von „Weimarer Verhältnissen“ – und sagte Eckharts Lesung ab. Völlig unnötig, denn wie sich herausstellte waren es nur ein paar Nachbarn, die vermuteten, es könne zu Störungen kommen, so wie 2016 bei einer Lesung des meinungstarken ZEIT-Kolumnisten Harald Martenstein. Doch da hatten sich schon zwei AutorInnen geweigert, mit Lisa Eckhart die Bühne zu teilen und in den Netzwerken und Feuilletons tobte der Kampf um die Deutungshoheit. Als wären Autor und Text einunddasselbe. Der Schriftsteller Sascha Reh war so verärgert über das Theater, dass er seine Teilnahme am Literaturfestival absagte: „Ich habe mich an den Fall Gomringer erinnert gefühlt, wo es auch einen großen Aufschrei gab, der schließlich zur Übermalung des Gedichts „Avenidas“ geführt hat“, sagt er am Telefon. „Dieser Alarmismus ging mir damals schon zu weit, ebenso die Wehleidigkeit, Spuren der Unterdrückung noch in den unscheinbarsten Ecken finden zu wollen“.

 

Nun ist Empörung ja erstmal keine schlechte Sache, das zeigen zum Beispiel die aktuellen Proteste gegen rassistische Polizeigewalt.

 

Nun ist Empörung ja erstmal keine schlechte Sache, das zeigen zum Beispiel die aktuellen Proteste gegen rassistische Polizeigewalt. Doch was sich auf Facebook und Twitter abspielt ist nur selten ein Austausch von kritischen Argumenten und konkreten Einwänden. Eher bricht sich ein inquisitorischer Moralismus Bahn, der vor persönlichen Attacken nicht zurückschreckt. Der Pop-Theoretiker Mark Fisher schreibt dazu in seinem Essay „Raus aus dem Vampirschloss“: „Man wird angetrieben von dem priesterlichen Wunsch danach, zu exkommunizieren und zu verurteilen, dem akademisch-pedantischen Begehren, der erste zu sein, der einen Fehler entdeckt und der Hipster-Lust dazuzugehören. Wenn man das Vampirschloss angreift, besteht die Gefahr, dass es so aussieht – und man wird alles dafür tun, damit dieser Eindruck entsteht –, als ob man auch den Kampf gegen Rassismus, Sexismus und Heterosexismus attackiert“. Die Gesellschaft wird zum in Parzellen unterteilten Kleingartenverein, in dem jede Minderheit auf die Einhaltung ihrer Regeln pocht. Als Weißer mit Dreadlooks kann man da schnell mal Ärger bekommen: #culturalappropriation. Soziale Herkunft und das Bemühen um mehr sozioökonomische Gerechtigkeit spielen in den bürgerlich akademischen Milieus der sogenannten kulturellen Linken keine große Rolle mehr. Auch vom einstigen Universalismus, der das Verbindende sucht und sieht, hat man sich dort weitgehend verabschiedet.

In der Petition vom April wird Lisa Eckhart nicht einfach nur vorgeworfen, geschmacklose Witze zu machen, wie man sie seit Jahrzehnten von „Titanic“ kennt. Ihre Anklage lautet: Rassismus, Homophobie, Transphobie, Ableismus und vor allem Antisemitismus – alles festgemacht am längst berüchtigten Video „Die heilige Kuh hat BSE“. Da hilft es scheinbar nur wenig, dass der Politikwissenschaftler und Historiker Götz Aly in der Berliner Zeitung einen klaren Standpunkt formuliert: „Wer Lisa Eckhart Antisemitismus vorwirft, muss entweder geistesgestört sein oder böswillig“. Auch in der Jüdischen Allgemeinen findet sich Zustimmung, ebenso in linken Blättern wie Jungle World, Junge Welt und taz. Und der Shitstorm erprobte Ex-Titanic-Chef Martin Sonneborn erklärt in einem Interview: „Wenn man jeder möglichen Kritik Rechnung trägt, dann dürfte man frei nach Robert Gernhardt nur noch Witze machen über Wüsten und unentdeckte Planeten“.

 

Als Lisa Eckhart Mitte August vor 1.000 Zuschauern in Dresden auftritt – die erste Show seit vielen Wochen – stehen vorm Eingang zwei Dutzend DemonstrantInnen mit Schildern in den Händen. „Ich hatte kurz den schelmischen Wunsch, mich verkleidet darunter zu mischen und noch ein Plakat zu malen: ‚Eckhart, du Sau‘“, sagt sie am Telefon. Und vergleicht dann ihre Kritiker mit Kindern, die sich auf den Boden werfen und rufen: Das wollen wir nicht! „Dahinter steckt eine Unfähigkeit das Andere zu akzeptieren, eine Konsumenten-Haltung, die es gewohnt ist, dass einem nur Artikel angezeigt werden, passend zu Produkten, die man schon gekauft hat. Aber so funktioniert die Welt nicht.“ Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie sieht das ähnlich: „Man möchte, dass Leute, die Meinungen haben, die einem nicht passen, der Schneid abgekauft wird, und man möchte sie zu Büßergesten veranlassen“.

Schwierig wird es allerdings, wenn es nicht um nur Aussagen, Haltungen und Meinungen geht, sondern um konkrete Taten. Seit einer Weile überschlagen sich die Meldungen, die von übergriffigen Musikern und Künstlern berichteten. Der amerikanische Songwriter Mark Kozelek wurde von drei Frauen unabhängig voneinander beschuldigt, in Hotelzimmern übergriffig geworden zu sein. Als eine sich weigerte, habe er vor ihr masturbiert und sie begrapscht. Im Fall von Burger Records treffen vergleichbare Anschuldigungen gleich ein ganzes Indie-Label. Die Betreiber Lee Rickard und Sean Bohrman distanzierten sich zunächst von einigen Mitarbeitern und Musikern und versuchten als BRGR RCRDS einen Relaunch. Doch in den sozialen Netzwerken schimpften die Fans weiter, maßlos enttäuscht, dass es sexistische Übergriffe auch in der Indie-Szene gibt – bis Burger Records schließlich im Juli sämtliche Aktivitäten einstellte. Und dann war da auch noch die Geschichte von Ryan Adams, den „Täter im Schafspelz“ (SZ), der mindestens sieben Frauen psychisch unterdrückt und sexuell belästigt haben soll, so dass das FBI jetzt gegen ihn ermittelt.

 

Und das ist ein wichtiger Punkt: Die Untersuchungen in Fällen, wo es nicht um mißliebige Meinungen geht, sondern um konkrete Gewalt und Demütigung, muss eine unabhängige Justiz führen – und kein Online-Tribunal. Auch wenn ein Autor der taz – im Fall des auf Instagram der sexuellen Ausbeutung und Übergriffigkeit beschuldigten Künstlers Jon Rafman – behauptet: „Das Strafrecht ist eine patriarchale Sau“. Die Fälle, die Rafman vorgeworfen werden, liegen Jahre zurück und spielten sich scheinbar in einer Grauzone ab – der Künstler selbst hat inzwischen auf Unterlassung geklagt. Dennoch wurden Exponate aus einer laufenden Ausstellung entnommen und zwei geplante Shows gecancelt. Rafmans Galerie in Montreal hat die Zusammenarbeit aufgekündigt und alle Spuren des Künstlers von ihrer Webseite getilgt.

Tragisch auch der Fall von Ian Svenonious, Sänger von Bands, wie Nation of Ulysses oder The Make Up und seit drei Jahrzehnten unterwegs im politisch bewussteren Teil des Indie-Universums. Ende Juli postete Svenonious auf Instagram einen bemerkenswerten Kommentar: „The trash fire burning through underground music is long overdue“, beginnt das Statement, in dessen Verlauf sich der Sänger entschieden für die Auslöschung einer männlichen Raubtier-Haltung ausspricht, aber bekennt: „Auch ich habe mich äußerst unangemessen gegenüber Frauen verhalten“. Kurz darauf löschte Svenonious den Post und stellte den Modus seines Instagram-Accounts auf „Privat“. Konkrete Anschuldigen gab es bisher keine. Trotzdem setzte Merge Records den Künstler ohne lange zu fackeln vor die Tür und entfernte seine Musik aus allen physischen und digitalen Vertriebsplattformen. Der Post sei „erhellend“ und „entmutigend“ gewesen, heißt es in einer knappen Stellungsnahme, man arbeite daran die Community „safer und inklusiver für alle“ zu machen. Offenbar wissen auch Indie-Labels wie man Sprechblasen produziert.

 

Der bibelfeste Nick Cave hält Cancel Culture sogar für das Gegenteil von Gnade: „Politische Korrektheit wurde zur unglücklichsten Religion der Welt“, schreibt der Sänger in einem seiner „Red Hand Files“-Newsletter. „Einst der ehrbare Versuch unsere Gesellschaft gleichberechtigt neu zu gestalten, verkörpert sie nun die schlimmsten Aspekte von Religion (und nichts von deren Schönheit) – moralische Gewissheit und Selbstgerechtigkeit, ohne die Funktion der Erlösung“.

Lisa Eckhart drückt das naturgemäß etwas anders aus: „Das ist keine Culture, die cancelt, sondern umgekehrt: Kultur wird gecancelt. Rechts hat man den Hass auf alles Fremde. Und links, vermeintlich links, hat man ähnliche Konzepte, mit der Angst vor kulturellen Aneignungen. Letztlich findet sich in beiden Lagern ein seltsamer Reinheitsgedanke, der sich gegen das Kulturelle wehrt. Man geht nicht mehr davon aus, dass Menschen punktuell wissen, wie sie sich zu verhalten haben, ohne andere zu kränken, sondern das muss vorgeschrieben werden, wie für Kinder.“

Es geht letztlich um das Aushalten von Ambivalenz. Nicht alles was kränkt muss auf der Stelle verboten werden; nicht jeder Shitstorm hat die gesellschaftliche Relevanz, die ihm in der Hitze des Gefechts zugeschrieben wird. Vor allem Institutionen und Kultur-Einrichtungen müssen lernen mit solchen Zumutungen besser umzugehen. Weniger Panik, mehr Gelassenheit!

 

Veröffentlicht in Rolling Stone 10/2020

CategoriesAllgemein