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NACHTS, WENN DOLORES KOMMT

SIGNA erschafft begehbare Albträume. Unser Autor Jürgen Ziemer durchlitt einen zwölfstündigen Intensivkurs zur Empathieförderung

Das Leiden wohnt in einer stillgelegten Werkhalle der Firma Heidenreich & Harbeck. Ein nicht enden wollender Raum in Hamburg-Barmbek, in dem früher einmal Waffen hergestellt wurden. Links ein Glaskasten, rechts ein Glaskasten, darin Schlafsäle und Büros, im Stil einer vergangenen industriellen Ära. Es ist dunkel, eisig kalt, und überall stehen oder kauern seltsame Gestalten. Eine junge Frau mit leerem Blick presst eine Plastikpuppe an sich, ein spindeldürrer Rom lugt lauernd unter einer Wollmütze hervor. Unsicher durchqueren wir den Raum, steigen die Treppe zu einem Vortragsraum hinauf. Wir, das sind 44 Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die vor allem eins verbindet: Wir glauben an die Bedeutung von Empathie und Solidarität. Deshalb sitzen wir nun in einem ungemütlichen, viel zu grell beleuchteten Raum des Vereins „Das halbe Leid e. V.“. Vor uns steht ein halbes Dutzend ausgelaugt und überfordert wirkender Betreuer und Therapeuten, die sich „Mitleidende“ nennen. Denn darum soll es heute gehen: im Rahmen eines zwölfstündigen Kurses zur Empathieförderung das Leid der anderen zu teilen. Und seien sie auch noch so schmutzig, hässlich und gemein. Eine ganze Nacht lang, bis um sieben Uhr am nächsten Morgen.

 Den Verein „Das halbe Leid e. V.“ gibt es in Wirklichkeit nicht. Und auch die Obdachlosen, so verzweifelt sie wirken mögen, sind genauso wenig echt wie ihre Betreuer. „Das halbe Leid“ ist eine Performance-Installation von SIGNA. Die vielköpfige Truppe um das dänisch-österreichische Paar Signa und Arthur Köstler arbeitet zum dritten Mal seit 2013 mit dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg zusammen. Nicht nur den Schauspielern, auch dem Publikum wird dabei einiges abverlangt. SIGNA hat einen legendären, fast berüchtigten Ruf, die „europäischen Marktführer des immersiven Theaters“ nannte sie einmal die Süddeutsche Zeitung. Installationen wie Die Erscheinungen der Martha Rubin, mit der SIGNA 2008 zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, dauern mitunter mehrere Tage. Es sind bis ins kleinste Detail inszenierte Welten, wo hinter jeder Geschichte noch eine weitere steckt. Die Biografien der Mitwirkenden – viele werden erst unmittelbar vor Beginn der jeweiligen Produktion über soziale Netzwerke gecastet – sind dabei so hieb- und stichfest wie die Alibis der sizilianischen Mafia. Realität und Fiktion sind kaum zu trennen, alles begehbar, fühlbar, interaktiv.

Sicherheit gibt es keine

Einen sicheren, gut gepolsterten Platz im Zuschauerraum des Theaters gibt es bei SIGNA nicht. Die Inszenierungen finden an externen Spielorten statt, meist weitläufige, von einer beklemmend sinistren Atmosphäre durchtränkte Gebäude. Eine Art begehbarer Albtraum, in dem Besucher oft mit extremer Nähe konfrontiert werden, physisch und psychisch. Scheinbar unschuldige Fragen können da eine Lawine von sehr persönlichen Empfindungen auslösen. „Menschliche Begegnungen sind das, was unser ganzes Leben ausmacht. Und das ist auch das, womit wir arbeiten“, sagt Signa Köstler, die zusammen mit ihrem Mann Arthur nicht bloß Regie führt, sondern auch selbst mitwirkt. Mit klassischem Theater hat das alles wenig zu tun. Signa und Arthur Köstler kommen aus dem Bereich der bildenden Kunst, das Motto der Truppe lautet: „In your face, in your brain, in your guts“.

Trotzdem beginnt die Nacht bei „Das halbes Leid e. V.“ mit dem warmen Plätschern psychotherapeutischer Heilungsansätze. Da wird gemeinsam gesungen, werden kalte Händchen gehalten, bis die Tränen kommen, und in halbstündigen „Kursen“ mit Namen wie „Körperschleusen“ oder „Sehnsuchtsteich“ blitzt sogar skurriler Humor auf. In den beiden zugemüllten Schlafsälen des Vereins „Das halbe Leid e. V.“ sind Frauen und Männer getrennt untergebracht – wie in einem echten Obachlosenasyl. Wir Männer stehen in Reih und Glied, warten darauf, dass ein Obdachloser uns auswählt. Der kahlgeschorene Marc stolziert wie ein Feldwebel vor uns herum, herrisch wählt er zwei Mitläufer aus. Auch der zitternde Junkie Blondie findet einen, der zu ihm passt. Gemeinsam mit Olaf, der normalerweise Führungskräfte berät, lande ich bei dem pausenlos quasselnden und jammernden Sheriff. Der war früher Assistenzarzt in Aachen, bis ihm die Frau weglief und er mit dem Trinken anfing. Jetzt sitzt er als Pegelsäufer im Rollstuhl und leidet unter Angstattacken. Als „Sheriff II“ und „Sheriff III“ versuchen wir sein Leid zu teilen. Das heißt, wir schleppen ihn Treppen hoch, knöpfen ihm zum Pinkeln umständlich die Hose auf, leeren und reinigen sein mobiles Plastik-Urinal.

Um den angestrebten Identitätstausch perfekt zu machen, haben wir unsere Kleidung in einem Spind deponiert und tragen stattdessen müffelnde Klamotten aus dem Caritas-Container. Ich habe mich für eine fleckige Jogginghose in XL entschieden, dazu ausgelatschte Turnschuhe und ein weißer Fleece-Pulli mit Eisbärmotiv auf der Brust. Doch Das halbe Leid ist kein Kostümball mit sozialpädagogischem Ansatz. Je mehr die Zeit fortschreitet, desto surrealer und albtraumhafter wird die Atmosphäre. Alle reden ständig von „Dolores“ – lateinisch für Schmerz –, und davon gibt es hier eine Menge. Der Rom Minu hat Dolores als ausgemergelte Frauengestalt an die Wand neben seinem Bett gezeichnet. Als sei sie der unheilvolle Geist des Gebäudes. Auch eine windschiefe Hütte haben sie für Dolores gebaut. Draußen, in der endlosen Weite der ehemaligen Produktionshalle.

Obdachlose und andere Randständige sind Getriebene, auch wenn man sie lieber passiv und dankbar hat. Wohltätigkeit, so gut es der Einzelne meint, unterstreicht letztlich nur die Privilegiertheit des Helfenden. Ungerechtigkeit und Ungleichheit werden davon nicht aus der Welt geschafft. „Wille, als Gegenteil ruhenden Genügens, ist an sich selbst etwas fundamental Unseliges; er ist Unruhe, Streben nach etwas, Notdurft, Lechzen, Gier, Verlangen, Leiden. Und eine Welt des Willens kann nichts anderes als eine Welt des Leidens sein“, zitiert das Begleitheft der Inszenierung Thomas Mann. Auch in den Schlafsälen des Vereins „Das halbe Leid e. V.“ brodeln Wille und Gemeinheit mit großer Vitalität – vor allem wenn nach Mitternacht das Licht gelöscht wird und die Nachtruhe beginnt. Ich muss an die Welt von Game of Thrones denken und das dunkel raunende Motto der Serie: „The night is dark and full of terrors.“

Der Rest ergreift die Flucht

Sheriff will uns jetzt ständig an seiner Seite haben, als Schutz vor Dolores und der Gewalt der anderen. Deshalb liegen wir in unseren lächerlich kleinen Etagenbetten – er unten, ich oben – und halten uns an den Händen. Olaf, also Sheriff II, sitzt derweil in Sheriffs Rollstuhl und spendet fast schon etwas übertriebenen seelischen Support. Die Gespräche, die heute Nacht in diesem Saal stattfinden, wirken wie Beichten oder Selbsttherapie. Vor ein paar Stunden hätte ich das alles noch als lächerlich und überzogen empfunden – nun fühlt es sich irgendwie gut und richtig an. Das Spiel ist uns zur Realität geworden.

Doch wer liefert sich solchen Szenarien überhaupt freiwillig aus? Wer irrt zwölf Stunden durch ein Labyrinth aus Leid, mit Schlafplatz, aber ohne Schlaf, weil selbst zur Ruhezeit Wölfe vom Band heulen und das Geschrei und Gezeter der Bewohner kein Ende nimmt? Bei früheren Inszenierungen von SIGNA war es oft ein Querschnitt durch das bürgerliche Theaterpublikum. Auch diesmal ist das Interesse enorm – bis Mitte Januar sind alle Vorstellungen ausverkauft –, doch die Dauer von zwölf Stunden hat Ältere offenbar abgeschreckt, es sind überwiegend junge Menschen gekommen, zum Teil mit bunten Haaren und reichlich Piercings. „Ideale Zuschauer gibt es nicht“, sagt Signa Köstler, „wenn wir nicht mit jedem umgehen können, dann liegt das an uns. Aber es gibt Menschen, mit denen es schwieriger ist, weil sie sich nicht so auf die Stimmung einlassen.“ Bei der Premiere von Das halbe Leid waren tags zuvor von 50 Mitleidenden am Ende nur noch 29 übrig. Der Rest ergriff im Lauf der Nacht die Flucht. Unsere Gruppe dagegen blüht regelrecht auf in diesem intensiven Ausnahmemilieu mit seinen sonderbaren, aber auch liebenswerten Vögeln. Und immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich persönliche Dinge erzähle, von denen nicht mal gute Freunde wissen. Anderen geht es ähnlich.

In einem ebenso bizarren wie intensiven Reenactment stellen wir um vier Uhr nachts, mitten in der dunklen Halle, die Misshandlungen des Rom Joe durch seinen gewalttätigen Vater nach. Wimmernd liegt er mit heruntergelassener Hose auf dem Beton-Fußboden, den nackten Hintern in die Luft gestreckt. „Du willst sein Leid erfahren?“, fragt mich Serkan Ates, ein durchtrainierter Betreuer des Vereins, mit dem Aussehen eines Gangsta-Rappers. „Dann schlag ihn!“ Er drückt mir einen sehr kleinen und ziemlich leichten Stock in die Hand. Es ist Theater, ein Spiel, aber ich bin entsetzt. „Niemals“, antworte ich und werfe das symbolische Stöckchen auf den Boden. „Gut“, sagt Serkan und sieht mich und einen neben mir stehenden jungen Mann mit langen blonden Dreadlocks durchdringend an. „Dann teilt sein Leid – wie ihr es versprochen habt.“ Und so wie es dem kleinen Joe widerfahren ist, damals in Rumänien, legen wir zu dritt unsere Kleider ab, stehen gemeinsam nackt und frierend in der Kälte. Als Zeichen der Solidarität.

Das ist ja komplett bescheuert, könnte man denken. Aber das offensichtliche Leid von Joe hat in unseren Köpfen etwas in Bewegung gebracht. Wir sind alle drei völlig aufgelöst, den Tränen nahe, eine Woge der Empathie zieht uns den Boden unter den Füßen weg, bis wir einander schließlich nackt in die Arme fallen. Von mitspielenden Zuschauern sind wir zu Mitleidenden geworden – die Rechnung von SIGNA ist aufgegangen.

Erschienen in Der Freitag, Ausgabe 48/2017

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