Die Tage von Fred Astaire und Gene Kelly liegen weit zurück. Heute versuchen die Musicalhäuser eher mit aufwändiger Technik zu punkten. Doch die Kosten steigen und Erfolge werden rar: Die Branche sucht nach neuen Ideen.
In Hamburg sind sie unübersehbar: riesige Plakate voller dunkelroter Rosenblätter, darauf eine glitzernde halbe Strassmaske und die Zeile »Liebe stirbt nie – Phantom II«. Es ist Werbung für die frisch angelaufene Fortsetzung von Andrew Lloyd Webbers »Phantom der Oper«. In der Filmbranche nennt man so etwas ein Sequel, den Versuch, einen Hit ein zweites Mal zu melken.
»Das Phantom der Oper« gehört mit weltweit 130 Millionen Besuchern zu den erfolgreichsten Musicals aller Zeiten. Zur Deutschlandpremiere vor 25 Jahren bauten die Hamburger eigens dafür das Theater Neue Flora. Es war der Beginn einer Ära. Heute ist die Stadt nach London und New York der drittgrößte Musicalmarkt der Welt, insgesamt vier Häuser sorgen für bonbonbunte Familienunterhaltung wie »Der König der Löwen«.
Leicht war es noch nie, die großen Musiktheater an Wochentagen auszuverkaufen – doch es wird zunehmend schwerer. Die Musicalbranche ist im Umbruch, und manche reden bereits von einer Krise. Schon weil die Produktion eines Musicals ein aufwendiges und teures Unternehmen ist, bei dem bitte nichts schiefgehen darf.
Bei »Liebe stirbt nie« lief offenbar eine ganze Menge schief: In London wurde das Stück nach einem halben Jahr wieder abgesetzt, auch in Kopenhagen war schon nach sechs Monaten Schluss. Am New Yorker Broadway haben sie »Love Never Dies« deshalb gar nicht erst gezeigt. Als das Musical im Oktober in Hamburg anlief, waren die Kritiken verheerend: »Tanzeinlagen und Songs wie aus einer sehr ambitionierten, letztlich aber unerträglichen Castingshow«, schimpfte »Die Zeit«. Die »Münchner Abendzeitung« fragte ratlos: »Wo bleiben nur die Ohrwürmer?« Gute Frage. Stage Entertainment, ein großer deutscher Veranstalter in diesem Millionenmarkt, setzt vor allem auf die Popularität des Komponisten – ein Risiko. Denn Publikumsvorlieben lassen sich heute immer schwerer prognostizieren. Manche lieben es farbenprächtig, gefühlvoll und seicht, andere eher anspruchsvoll oder gar avantgardistisch.
Natürlich könnte man auch einen aktuellen Broadway-Hit eindeutschen. Doch Produktionen wie die schrägen »Kinky Boots« von Cindy Lauper und Harvey Fierstein passen ebenso wenig zum deutschen Massenpublikum wie»Hamilton«,das mit Hilfe von HipHop und R&B mitreißend von den Gründervätern der Vereinigten Staaten erzählt.
Auch hierzulande gibt es kleinere Spielstätten, die mit Qualität und Anspruch Kasse machen, wie das Münchner Staatstheater am Gärtnerplatz. »Die Zukunft eines lebendigen Musiktheaters liegt in Musicals, die Grenzen zwischen Unterhaltung und Ernsthaftigkeit überschreiten«, sagt der Chefdramaturg des Hauses, Michael Otto. »Unsere Beiträge bieten dieses Spektrum, von ›Tschitti Tschitti Bäng Bäng‹ über ›Gefährliche Liebschaften‹ bis zu ›Das Lächeln einer Sommernacht‹, und ernten große Resonanz.« Beim »Deutschen Musical Theater Preis« 2015 wurde »Gefährliche Liebschaften« gerade erst als bestes deutschsprachiges Musical ausgezeichnet.
Originalität ist also gefragt. Deshalb entwickeln die großen deutschen Musicalanbieter immer mehr eigene Stoffe. Die Entwicklung der Plots dauert allerdings Jahre, und oft explodieren dabei die Kosten. 6 bis 12 Millionen Euro verschlingt ein kommerziell ausgerichtetes Musical, bevor es an einem der hiesigen Standorte auf die Bretter gelangt. Gutes Timing ist Pfilcht. »Das Wunder von Bern« startete 2014 wenige Monate nach der Fußball-WM, und die Kritiken waren durchweg gut. Doch ein so deutscher Stoff wie das legendäre WM-Endspiel von 1954 lässt sich nur schwer ins Ausland verkaufen. Auf Stage Entertainment lastet ein großer Druck: 50 Millionen verschlang allein der Neubau des eigens für das Stück gebauten vierten Hamburger Musicaltheaters direkt am Elbufer. Weitere 15 Millionen Euro kostete die technisch aufwendige Produktion. Damit war sie doppelt so teuer wie Sönke Wortmanns Film von 2003. Viel Geld, selbst bei einem Jahresumsatz von 299 Millionen Euro, den Stage Entertainment 2013/14 in Deutschland erwirtschaftete. Ob sich die Investition gelohnt hat, wird man in einigen Jahren wissen – wenn »Das Wunder von Bern« dann noch gespielt wird. Die Laufzeiten der Musicals werden kürzer, weil oft das Publikum ausbleibt.
Selbst spektakuläre Ausstattungen, gigantische Materialschlachten und pyro-technische Effekte sorgen nicht zwangsläufg für einen Run auf die Ticketschalter. Am New Yorker Broadway markiert »Spider Man – Turn Off The Dark« mit über 70 Millionen Dollar Produktionskosten eine absolute Negativbilanz: Selbst 1000 Aufführungen reichten nicht aus, um das 2014 wieder abgesetzte »teuerste Musical aller Zeiten« in die Gewinnzone zu holen. Denn auch in New York und London, den Epizentren des Genres, fehlt heute jegliche Erfolgsgarantie. Der Geschmack des Publikums verändert sich rasch, und selbst prominente Namen ziehen nicht mehr auf Anhieb. Jüngst erwischte es auch den Komponisten John Kander, verantwortlich für erfolgreich verfilmte Klassiker wie »Chicago« und »Cabaret«. Mit »The Visit« brach er nach wenigen Vorstellungen ein, trotz guter Kritiken und Musicalikone Chita Rivera in der Titelrolle.
»Broadway-Musicals haben im Moment ein großes Problem«, sagt auch Barrie Kosky, Intendant und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin, die mit »Kiss me, Kate« gerade selbst ein Musical im Programm hat. »In den 20er- und 30er-Jahren lebte der Broadway vom Jazz, in den 50er bis 70er Jahren auch vom Rock und den Impulsen der Popkultur. Aber wo sind heute die HipHop- und Popkomponisten, die große BroadwayMusicals schreiben?«
Tatsächlich fehlen Stücke, die den Nerv der Zeit treffen, so wie einst »Hair«. In der deutschen Fassung des psychedelisch fluoreszierenden Musicals von 1968 riefen Hippies – einer von ihnen war der spätere »König von Mallorca«, Jürgen Drews – das Zeitalter des Wassermanns aus. Songs wie »Aquarius« landeten prompt in den Charts, wurden zu Klassikern der Popkultur. Bei den sogenannten JukeboxMusicals funktioniert das heute umgekehrt: Da werden die Songs von Abba mit einer dünnen Story versehen, und schon hat man ein Musical wie »Mamma Mia!«. Das Rezept funktioniert natürlich auch mit Queen (»We Will Rock You«), Udo Jürgens (»Ich war noch niemals in New York«) oder Udo Lindenberg (»Hinterm Horizont«).
Viel ambitionierter klingt es, wenn sich Popstars wie die Pet Shop Boys dem Thema Musical widmen: Unterstützt vom großen BBC-Orchester geht es in »A Man From The Future« um Alan Turing, ein 1952 wegen seiner Homosexualität zur chemischen Kastration verurteiltes Mathematikgenie. Eine bitterböse Erzählung um Vorurteile und Undankbarkeit, brillant arrangiert von dem Deutschen Sven Helbig. Das 5000-köpfige Publikum in der Royal Albert Hall spendete Standing Ovations. Kann so etwas auch in deutschen Musicalhäusern funktionieren? Käme auf einen Versuch an.
Wirtschaftlich vielversprechender sind zwei neue Produktionen, die für den derzeit kassenträchtigsten Musicaltrend stehen: die Adaption erfolgreicher Hollywoodstoffe. Die Musicalversion des Kinohits »Bodyguard«, die in Köln zu sehen ist, setzt vor allem auf die durch Whitney Houston bekannt gewordenen Songs: 44 Millionen Mal hat sich der Soundtrack des Films verkauft, eine der erfolgreichsten Filmmusiken überhaupt. Die Ausstattung von »Bodyguard – Das Musical« erinnert eher an klassisches Musiktheater – illuminiert von 1,2 Millionen LED-Lämpchen – als an die überzuckerten FantasyWelten, die anderswo die Bühne beherrschen. Und wenn Hauptdarstellerin Patricia Meeden zur Ballade »I Will Always Love You« ansetzt, rascheln im Saal die Taschentücher.
Das Disney-Abenteuer »Aladdin«, das im Dezember in Hamburg gestartet ist, erzählt die märchenhafte Geschichte des orientalischen Straßenjungen Aladdin und seines Freundes Dschinni, eines Flaschengeists. Dass es dabei bunt zugeht, ist noch untertrieben – arabische Nächte wie aus dem Bilderbuch.
Genau darum geht es beim Musical. Um die kleinen Fluchten aus einem Alltag, der immer härter und schneller wird. Das Bedürfnis nach Unterhaltung ist heute so groß wie noch nie. »Aladdin« und »Bodyguard« sind das Bühnen-Äquivalent eines Hollywood-Blockbusters. Auch wenn man solche Spektakel ablehnt, spürt man in guten Momenten ihre magische Anziehungskraft. Mag sein, dass das alles nur eine große glitzernde Lüge ist, die uns von den wirklich wichtigen Problemen ablenkt. Aber manchmal tut so ein schrilles Musical auch richtig gut.
Erschienen in DB mobil 1/2016