Einst wollte er  mit seiner Musik die Welt verändern, heute ist er ein Privatgelehrter, der hin und wieder unter die Leute geht. Ein Besuch beim großen Songwriter Paddy McAloon

Foto: Kevin Westenberg

Septemberstimmung im nordenglischen Städtchen Durham. Ein paar müde Sonnenstrahlen fallen zwischen den Wolken herab, doch die wirklich guten Tage sind vorbei. Vielleicht ahnt das auch der ältere Herr mit dem Rauschebart und den langen weißen Haaren, der über die mittelalterliche Elvet Bridge schlendert, als gäbe es dort keine Touristen, die in kreischbunter Funktionskleidung im Weg stehen. Man könnte ihn für einen Literaten halten oder einen leicht exzentrischen Professor. Doch Paddy McAloon ist Popmusiker, der Kopf der Band Prefab Sprout – auch wenn er sich schon lange von der Welt der Charts verabschiedet hat.

Wie eine Flaschenpost schickt er im Abstand von vielen Jahren immer mal wieder ein Album in den Ozean der Neuerscheinungen. Musikkritiker drehen dann regelmäßig durch und feiern den Mann wie einen Heiligen,  einen Brian Wilson aus Englands grimmigen Norden. Allein die Tatsache, dass vor einigen Wochen neue Songs auf YouTube auftauchten, führte zu hysterisch-hymnischen Vorabbesprechungen, die Hoffnung, dass es im Herbst ein neues Album von Prefab Sprout geben könnte, trieb die Euphorie auf einsame Spitzen. Aber warum bloß, wer ist dieser Paddy McAloon? Ein Genie oder doch bloß ein begabter Kunsthandwerker des Pop?

Alben wie „From Langley Park To Memphis“ oder „Andromeda Heights“ sind seltene Exemplare einer Gattung, die man Autorenpop nennen könnte – so literarisch in ihrem Anspielungsreichtum, dass man sich bisweilen Fußnoten wünscht, und musikalisch so kenntnisreich in Szene gesetzt, dass sich Connaisseure behaglich in die Polster ihr Kopfhörer kuscheln. In den Achtzigern gab es bei Prefab Sprout sogar einen gewissen Willen zur Jugendlichkeit: Das Cover ihres Klassikers „Steve McQueen“ zeigt drei Jungs, ein Mädchen und ein altes Triumph-Motorrad – die Musikgruppe als romantische Außenseiterbande. Dahinter die kalten Nebel und kahlen Äste der nordenglischen Provinz: eine perfekte Schnittmenge aus James Dean, Nouvelle Vague und britischer Working Class Attitude. Die Rebellion von Prefab Sprout fand im Programmkino statt.

28 Jahre liegen zwischen „Steve McQueen“ und dem Paddy McAloon, der jetzt vor dem Royal County steht – einer an Britishness nicht zu überbietenden Häuserzeile, die inzwischen ein Hotel beherbergt. Freundlich strahlen seine Augen, auch wenn man sie kaum sehen kann, unter der riesigen Sonnenbrille, die er über einer normalen Brille trägt. Jetzt geht ein Ruck durch seine Figur: Aber natürlich, klar, der Journalist aus Hamburg, der über das neue Prefab-Sprout-Album „Crimson/Red“ reden möchte! „Gehen wir doch rein und suchen uns ein Plätzchen“, sagt er, als wären wir gute Freunde. Kaum in den weichen Polstern einer Sitzecke gelandet, beginnt Paddy McAloon zu erzählen – atemlos ausschweifend, aber klug und reflektiert.

Es ging ihm nicht gut in den letzten Jahren, vor allem gesundheitlich. Vor etwa zehn Jahren löste sich auf beiden Augen die Netzhaut, was zu einer zeitweiligen Erblindung führte und bis heute operativ behandelt wird. 2006 folgte ein schwerer Tinnitus, der zusammen mit einer sogenannten Hyperakusis dafür sorgt, dass McAloon selbst kleine Geräusche als unerträglich laut empfindet. Seitdem ist es ihm praktisch unmöglich, mit anderen Musikern in einem Raum zu arbeiten. Ein Flugzeug hat der 56jährige schon lange nicht mehr betreten, Konzerttourneen sind undenkbar. Aus Prefab Sprout, einer Band von vier Freunden aus Durham, wurde das einsame Projekt eines Solokünstlers. „Niemand würde ein Album von Paul McCartney als Werk der Beatles durchgehen lassen“, klagt McAloon. Aber was soll er tun?

Der Name ist eine Bank und „Crimson/Red“ klingt genau so, wie es sich Prefab-Sprout-Fans erträumen: Hinreißende Melodien, fein verästelte Arrangements, in den Texten die gewohnt brillanten Bilder und Formulierungen. Um Details kümmert sich der langjährige Toningenieur Callum Malcolm, der einzige, den McAloon noch an seine Musik lässt.  2003 war er kurz davor alles hinzuwerfen: „Ich fragte mich, ob die Menschheit wirklich noch mehr von mir hören muss“.  Damals floppte McAloons bisher einziges Album unter eigenem Namen. „I Trawl The Megahertz“ war eine ätherische Klangreise zwischen Soundtrack und Neuer Musik. Dass normale Pophörer damit wenig anfangen konnten, enttäuschte ihn: „Inzwischen sehe ich „I Trawl The Megahertz“ eher wie einen Experimentalfilm. Man kann so etwas nicht in einem Multiplex-Kino zeigen, in dem sonst Filme wie „Star Wars“ oder „E.T.“ laufen“.

Dass er tatsächlich „E.T.“ als Referenzgröße nennt und nicht „Herr der Ringe“ oder sonst etwas aus dem zeitgenössischen Mainstream-Kino, beschreibt perfekt, welches Stadium der Weltvergessenheit McAloon mittlerweile erreicht hat. Allen schädlichen Einflüssen der Gegenwart entzogen, lebt er mit seiner Familie in einem ländlichen Exil voller Bücher und Musik: „Ich gehöre zu den Menschen, denen die Imagination wichtiger ist, als der Ort, an dem sie sich physisch aufhalten“. Man muss sich McAloons Heimstudio wohl wie eine kleine Manufaktur vorstellen: „Ich schreibe. Die ganze Zeit. Das ist eigentlich alles, was ich den Tag über tue. Einen normalen Job, so wie mein Bruder Martin, der früher bei Prefab Sprout Bass spielte, könnte ich nicht machen. In meinem Kopf spielt immer die Melodie des Stücks an dem ich gerade arbeite“, sagt er und streicht sich dabei über den Bart wie ein freundlicher Weihnachtsmann.

Manche Songs kommen so leicht zu ihm wie Fusseln auf einen Mantel gelangen. Andere sind störrisch, die legt er erst mal halb fertig ab in alten Kartons. Unter Prefab-Sprout-Fans kursieren Gerüchte über Dutzende unvollendeter Alben, die McAloon wie einen Schatz in seinem Haus hortet. Auch die zwischen 1997 und 2010 entstandenen Songs von „Crimson/Red“ stammen aus dem Archiv. Aufgenommen hat McAloon sie im Herbst letzten Jahres, im Heimstudio seines Hauses. Die Plattenfirma ließ ihm einfach keine Ruhe, aber jetzt ist er mehr als zufrieden: „Ich habe das Gefühl, dies ist die beste Song-Kollektion, die ich gemacht habe“, strahlt er glücklich.

Mag sein, dass der Mann ein wenig übertreibt, aber die zehn Stücke sind deutlich besser als das Material seines letzten Album „Let’s Change The World With Music“. Vor allem die Single „Best Jewel Thief In The World“ hat Hitqualitäten. „Masked and dressed in black, you scramble over rooftops„, singt McAloon zu heulenden Sirenen, synthetischen Streichern und einem unwiderstehlichen Uptempo-Beat. Der Song ist eine Vier-Minuten-Version von Alfred Hitchcocks „Über den Dächern von Nizza“ – mit Paddy McAloon in der Rolle von Cary Grant. „Die Arroganz eines Juwelendiebs ist etwas, das auch ein Autor manchmal braucht, um seine Arbeit gut zu machen“, sagt er. „Manchmal denke ich mir einfach einen Titel aus und schreibe dann darüber einen Song. Bestimmte Worte, bestimmte Bilder, das funktioniert fast wie ein kleines Filmscript“.

Der Albumtitel „Crimson/Red“ stammt aus dem Song „Adolescence“, der vom kribbelnden Gefühl handelt, ein Teenager zu sein: „Ich dachte an Feuerwerk und Purpur, an Blitze im Kopf, an ein Streichholz, das entflammt“. Dass McAloon aus der Perspektive eines Erwachsenen singt, macht den Song zu einer Meditation über das Altern. Überhaupt durchzieht ein Hauch von Spätsommer das Album: Zu Tautropfen, die auf Spinnennetzen glitzern, erzählt McAloon die Geschichte vom alten Zauberer, der sich ein letztes Mal vor seinem Publikum verbeugt und dann desillusioniert die Bühne verlässt. Seine letzten Worte: „Death is a lousy disappearing act“.

Vielleicht ist „The Old Magician“ das Stück, das seine Kunst am besten beschreibt: Der alte Zauberer Paddy kennt sein Talent, weiß um seine Grenzen und verzettelt sich nicht mit billigen Tricks. Er erzählt von den großen Themen, indem er sie in kleine Geschichten verpackt. Das ist ihm auch dieses Mal wieder so meisterlich gelungen, dass weiteren Liederkränzen aus der großen Truhe nichts im Weg steht. „Watch your legend grow“ singt McAloon, „the rooftops are for dreamers“.

Prefab Sprout: Crimson/Red (Embassy of Music/Warner)

Erschienen in Die Zeit 41/2013

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