Nein, das sind keine auf dem Dachboden spukenden Gespenster, sondern die vielleicht besten Schinken Deutschlands. Besuch bei einem Genuß-Traditionalisten

Kein Sonnenstrahl fällt in das mit rauem Muschelkalk verputzte Dachgeschoss. Die alten Dielen ächzen müde unter jedem Schritt, der holzgetäfelte Flur ist seit Jahrzehnten von einer dunklen Patina überzogen. Auf einem altmodischen Stehpult liegt ein Auftragsbuch voller Einträge in Sütterlin-Schrift. Was ist das hier? Ein Museum? Der aromatische Duft nach Schinken, Rauch und Meersalz sagt etwas anderes. Auch die drei Dutzend blütenweißen Leinensäcke, die im hintersten Raum von der Decke baumeln wie ein paar frisch gefangene Hausgeister. In jedem steckt ein prächtiger 30-Kilo-Schinken, der seit drei Jahren seinem geschmacklichen Höhepunkt entgegen reift. Noch ein Jahr, dann sind sie freigegeben zum Genuss der Extraklasse. „Das ist die letzte Schinkenräucherei die noch so funktioniert wie es vor 150 Jahren überall üblich war“, sagt Arnd Müller mit offensichtlichem Stolz. „Schinkenêum“ nennt der Metzgermeister aus Apen seine Firma, weil er von April bis September auch Besucher durch die 170 Jahre alten Räume führt, die einfach nur neugierig sind. Neugierig auf eine verschwundene Handwerkstradition und auf einen Schinken von dem ein Kilo bis zu 288 Euro kostet. Eine kleine Kostprobe ist für Besucher im Eintrittspreis enthalten.

Doch die Führungen durch das seit Generationen weitgehend unverändert gebliebene Haus im Ammerland sind nur ein Nebengeschäft. Müllers eigentliche Mission ist das Generationen-Projekt eines Schinkens, den man in dieser Qualität nirgendwo in Deutschland findet. Seit 1748 arbeitet seine Familie daran und auch er setzt auf eine Handwerkstradition, in der eins das andere bedingt, wo es einen Unterschied macht ob die Luft zum Trocknen dem Schinken vertikal oder horizontal zugeführt wird. Und von einer 28,5-Kilo-Keule verkauft Müller nicht mehr als 5,5 Kilo: das von einer dicken Schwarte geschützte Herzstück des Schinkens. Große Gewinne macht man mit so viel Hingabe und Handwerkerstolz eher nicht: „Ich freue mich über jedes Jahr, wo ich die Kosten zumindest in Deckung bringe“, sagt Müller, der deshalb alle im Haus anfallenden Arbeiten selber erledigt. Als Einzelkämpfer des guten Geschmacks hat man es nicht leicht in der von industriellen Strukturen geprägten Fleisch-Branche.

Aber jetzt schneidet der Hausherr erst mal mit einem gefährlich langen Messer eine Kostprobe ab. Er selbst nascht seinen Schinken nur pur, ohne Brot, wie würzige Pralinés. Und genau so machen wir es jetzt auch. Das Fleisch ist fest und dennoch buttersaftig, entwickelt beim Kauen eine enorme Tiefe. Verglichen mit einem 08/15-Parmaschinken aus dem Supermarkt bewegt sich dieser in der dritten Dimension. Man möchte mehr davon. Sofort. Doch Arnd Müller ist Kaufmann und hat nichts zu verschenken. Lieber erzählt er, was dieses zartrauchige Fleisch so besonders macht. „Wir kennen hier keine moderne Technik, keine Klimaanlage, die alles beschleunigt und dadurch kaputt macht“. Ein ausgeklügeltes vertikales Belüftungssystem, das die kühle Nachtluft nutzt und die Hitze des Tages draußen lässt, ermöglicht es, die Reifezeit des Schinkens auf über vier Jahre auszudehnen. Ähnlich wie beim Wein steht jeder Monat für ein Mehr an geschmacklicher Komplexität. Auch beim milden Räuchern mit Buchenholz in einer drei Stockwerke hohen Räucherkammer und der dezenten Trockensalzung setzt Müller auf die Erfahrungen der acht Generationen vor ihm. Den Rest erledigen Milchsäurekulturen und die feucht-milde Seeluft des Ammerlands. „Würzen muss man nur, was nicht von alleine schmeckt“.

Doch exzellentes Schweinefleisch ist in Deutschland Mangelware. Eingepfercht in Großmastbetriebe müssen die Tiere ihr Schlachtgewicht in sieben Monaten erreichen – der Handel erwartet Tiefstpreise. Das Ergebnis sind „DIN-Schweine“ ohne viel Speck und Geschmack. Die großen Keulen, die es braucht um einen Schinken jahrelang reifen zu lassen, liefern diese maximal 110 Kilo schweren Tiere nicht. Müller ist deshalb in einem Netzwerk von Hob- by-Bauern aktiv, dem „Verein zur Erhaltung des Bunten Bentheimer Schweins e. V.“. Aus Leidenschaft und kulinarischem Eigennutz kümmern sich diese „Hobbyisten“, wie Müller sie nennt, um die Erhaltung dieser vom Aussterben bedrohten Rasse. „Bei der Schinkenher-stellung alter Schule geht es um ein langes Schweineleben, nicht zuletzt deshalb, weil man dann auch eine große Keule bekommt“, sagt Müller, der sich für abwechslungsreich gefütterte 300- Kilo Schweine mit viel Auslauf begeis- tert. Doch die Zusammenarbeit mit Hobby-Bauern als Lieferanten ist nur schwer planbar: „Nicht alle lassen sich von einem blöden Theoretiker wie mir, der selber keine Schweine hält, erzählen wo die Reise hingehen soll. Das sind widerborstige Typen, doch sie präsen- tieren prächtige Ergebnisse“.

Im Regal hat Müller einen Preis von Slow Food stehen und viele seiner An- sichten gehen weiter als die Forderungen grüner Politiker. Doch von der Bio-Branche ist er enttäuscht: „Giftfreies Füttern gilt bereits als Bio. Doch ein giftfrei gefüttertes DIN-Schwein bleibt ein „Wasserschwein“, das nach nichts schmeckt“, schimpft er. „Bio ist teuer und das ist auch in Ordnung. Aber neben der Angst vor Giften sollte auch Freude am Genuss eine Rolle spielen!“ Tatsäch- lich schwärmt man in Deutschland eher vom Jamón Ibérico de Bellota als vom norddeutschen Katenschinken aus dem Bio-Supermarkt. Der Süden hat die Lizenz zum Schlemmen, in Deutschland versteht man sich mehr auf die Einhaltung von Normen und das Vermeiden gesundheitlicher Risiken. Dabei sind freilaufende Schweine, die sich auf der Weide ihre Bäuche mit Eicheln vollstopfen auch bei uns ein Sinnbild für artgerechte Tierhaltung. Ein Bio-Siegel gibt es dafür trotzdem nicht, denn Eicheln enthalten Blausäure, wenn auch nur in winzigen Mengen.

Das Veterinäramt macht es Müller auch beim Verkauf seiner Delikatesse nicht leicht. Während der Urgroßvater noch Fünf Sterne Hotels und deutsche Botschaften belieferte, darf der Urenkel seine Schinken nicht einmal an interessierte Hamburger Gastronomen verkaufen. „Eine EU-Verordnung verbietet mir Lieferungen an Weiterverkäufer außerhalb eines 100-Kilometer-Radius“. Schön, dass wenigstens Endverbraucher in Müllers Schinkenhimmel unbegrenzt einkaufen dürfen. Auf einen eigenen Onlineshop hat der dickköpfige Ammerländer trotzdem keine Lust: „Mein Schinken ist ein Nachfrage-Artikel. Wer sich wirklich für Qualität interessiert, der kommt hier vorbei“. Selbst wenn das Schinkenêum in Apen ein wenig abseits der Metropolen liegt: Dieser Schinken ist einen Umweg wert. Sogar einen sehr großen.

Jürgen Ziemer (Veröffentlicht in Essen & Trinken 6/2018)

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