Herbert Fritsch macht den Theatersaal zum Zirkus. „Fritschisieren“ nennen seine Kritiker das. Andere finden es preiswürdig.
Foto: Hanna Lenz für der Freitag
So sieht also Pfusch aus: Zehn Klaviere stehen am Rand der Bühne, alle nicht mehr die Jüngsten. Dahinter ein riesiges Metallrohr, aus dessen sanft beleuchtetem Inneren, eins nach dem anderen, ein Dutzend junger Mädchen schlüpft. Nicht jede ist tatsächlich jung und weiblich, aber alle tragen pastellfarbene Tüllkleider und übergroße Schleifen im Haar. Begeistert stürzen sie sich auf die ramponierten Instrumente, hämmern breit grinsend in die Tasten, bis eine hypnotische Minimal Music entsteht. „Heute gibt’s nur Achtel!“, kreischt eine aufgekratzt. Nach einer guten halben Stunde geht es weiter mit Trampolinspringen, Metallrohrklettern und anderem Slapstick.
Der Berliner Regisseur Herbert Fritsch hält sich nicht auf mit Diskurstheater oder der Psychologisierung seiner Charaktere. Er glaubt fest an das aus dem Film Singin’ In the Rain bekannte Motto „Make ’em laugh“ – bring sie zum Lachen. Mit vollem Körpereinsatz, bis über die Grenze zum absurden Schwachsinn. Musik spielt dabei eine ebenso wichtige Rolle wie die schrillen Kostüme von Victoria Behr.
Fritsch, der ursprünglich Schauspieler ist, wurde so neben den Kollegen René Pollesch und Frank Castorf zum Star der Berliner Volksbühne. In Murmel Murmel, frei nach Dieter Roth, fällt tatsächlich nur ein einziges Wort: Murmel. Immer wieder, präzise getaktet, und in den unterschiedlichsten Intonierungen. Mit Apokalypse hat Fritsch die Offenbarung des Johannes inszeniert – den letzten und finstersten Teil des Neuen Testaments. Der Schauspieler Wolfram Koch und die bravourös mitspielende Souffleuse Elisabeth Zumpe machen aus dem hysterischen Weltuntergangstext einen psychedelischen Bühnentrip. Im kanariengelben Anzug beschwört Koch als Prediger den Tag des Jüngsten Gerichts: „Ein Tier mit zehn Hörnern und sieben Köpfen steigt aus dem Meer. Es bekommt für 42 Monate Macht über alle Völker, lästert Gott und bekämpft die Heiligen.“ Die Apokalypse als Lachnummer, mit eingebauter Himmelfahrt. „Das Problem mit der Bibel ist ja, dass die Leute sie so unglaublich ernst nehmen und ein Gesetzbuch daraus gemacht haben“, glaubt Fritsch, der katholisch erzogen wurde. „Dabei ist das Neue Testament extrem verspielt und fantasievoll, voller Wunder und Geschichten.“ Fritsch weiß, wie man solche frommen Schnurren zum Funkeln bringt.
Am 7. Mai verleiht man dem Regisseur deshalb den renommierten Theaterpreis Berlin. Die Begründung zitiert einen Satz von Fritsch, der viel über seine Art zu arbeiten verrät: „Bei mir dürfen die Schauspieler all das machen, was ihnen schon auf der Schauspielschule verboten wurde.“ Zum Beispiel hemmungslos Grimassieren, kunstvoll Chargieren und exaltiert Herumtönen. Die Jury sieht den Otto-Falckenberg-Schüler in der „Tradition der den Unsinn feiernden Avantgardekünstler, die er auch als Autoren für die Bühne wiederentdeckt hat“. Passenderweise ist Pfusch, Fritschs letzte Arbeit für die Berliner Volksbühne, zum diesjährigen Theatertreffen eingeladen. Seit 2011 ist der 65-Jährige ein Stammgast bei dieser Leistungsschau der zehn bemerkenswertesten Stücke der zurückliegenden Saison.
Den Boden geleckt
Auch als Schauspieler war er früher schon oft eingeladen. Legendär ist eine Performance von 2007, bei der Fritsch zusammen mit seiner späteren Dramaturgin Sabrina Zwach und dem notorischen Friedrich Liechtenstein alle zehn Stücke des damaligen Theatertreffens in einer 90-minütigen Kurzfassung durch den Kakao zog – ohne sie überhaupt gesehen zu haben: „Wir haben uns aufgrund der Titel einfach etwas zusammengereimt“, sagt Fritsch. „Für mich war das auch ein Anfang, um über das Gegenwartstheater nachzudenken und ein Gegenmodell zu entwickeln.“
15 Jahre war er als Schauspieler an der Berliner Volksbühne und Protagonist zahlloser Castorf-Inszenierungen, 2007 verließ er das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz krank und im Streit. Er wollte nicht mehr als Schauspieler arbeiten sondern als Regisseur. Es folgten vier Lehr- und Wanderjahre als Regie-Newcomer in der Provinz. Damals sah es so aus, als sei ein Schauspiel-Champion zu Boden gegangen und der Ringrichter habe ihn angezählt. Aber Fritsch rappelt sich nicht nur wieder auf, er kommt zurück mit einem innovativen neuen Ansatz – als Regisseur, der aus der Perspektive eines Schauspielers inszeniert. 2011 wird er gleich mit zwei Inszenierungen zum Theatertreffen eingeladen: Nora von Henrik Ibsen aus dem Theater Oberhausen und Der Biberpelz von Gerhart Hauptmann aus dem Staatstheater Schwerin. Das Publikum ist begeistert, die Kritiker schwärmen.
Doch was macht den Mann mit der dicken Hornbrille und dem schlohweißen Haar so besonders? Neben sehr viel Humor ist es vor allem sein Mut, weniger den Text als vielmehr die Schauspieler und ihre Körper ins Zentrum der Inszenierung zu stellen, um sie dann im reinsten Sinn des Wortes zum Spielen zu bringen. „Ich bashe das Intellektuelle nicht“, sagt Fritsch. „Aber ich glaube, der Begriff intellektuell ist inzwischen genauso verbraucht wie der Begriff politisch. Da ist mir in manchen Punkten die Dummheit lieber. So wie Nietzsche gesagt hat: Man muss dumm sein, um handeln zu können.“ Fritsch weiß, dass er mit solchen Statements provoziert, er genießt es sogar. Die Suche nach Sinn haben er und seine Figuren längst aufgegeben. Manchmal reicht ein langgezogenes „Schöön“, und der Theatersaal wird zum Zirkus. Die von Fritsch meist selbst entworfenen Bühnenbilder tragen dazu bei. Oft steht nur ein riesiges Möbelstück im leeren, aber perfekt ausgeleuchteten Bühnenraum.
„Ich würde meine Arbeiten nicht als Dada bezeichnen, auch nicht als Versuch, avantgardistische Kunst zu machen. Ich setze eher konservative Mittel ein und finde es sehr interessant, die Schauspielkunst der 1920er Jahre fortzuführen. Der Stummfilm hat ja etwas sehr Körperliches, eben weil es der Stummfilm ist.“
Er selbst galt früher als „Extremschauspieler“, einmal hat er sogar minutenlang einen verdreckten Bühnenboden abgeleckt. „In fast jedem Stück hab ich mich nackt ausgezogen. Ich war ein sehr renitenter Schauspieler. Aber ich habe auch 30 Jahre lang ertragen, dass mir Regisseure sagen: ‚Jetzt bleib mal ganz ruhig stehen und sag einfach nur den Text.‘“ Fritsch hasst deshalb das „Hängearm-Theater“, wie er es nennt, und die dazugehörigen „ehrlichen Texte“. Noch schlimmer ist es für ihn nur, wenn von der Bühne herab dem Bürgertum mal wieder ein ordentlicher Einlauf verpasst werden soll: „Landauf, landab wird in jedem derben Provinztheater allabendlich dem Bürgertum die Maske vom Gesicht gerissen. Ich weiß gar nicht, was das für eine Maske ist, die ich da runterreißen soll.“
Dabei ist der 1951 in Augsburg geborene Fritsch ein Kind der Arbeiterklasse. Der Vater war Metallarbeiter, die Mutter zog schon bald nach seiner Geburt mit einem amerikanischen GI in die USA. Fritsch wuchs deshalb zunächst bei seinen Großeltern in der Oberpfalz auf, später besuchte er in Hamburg, wo der Vater mit seiner zweiten Frau lebte, die Katholische Bonifazius-Schule. Der katholische Glaube hat ihn stark geprägt, die Gewänder, der Weihrauch, das Brausen der Orgel. Später spielen Drogen und Beschaffungskriminalität eine große Rolle. Um seine Sucht zu befriedigen, knackte Fritsch in den 1970ern etliche Apotheken. Gewalt, darauf legt er Wert, war dabei nie im Spiel. „Aber als ich das erste Mal durch eine zerbrochene Scheibe gegangen bin, war das ein Gefühl, das mich mein ganzes Leben begleitet hat. Man steht in einem Raum, den man sich erobert hat“, erklärte Fritsch 2013 der Berliner Zeitung. Das Gleiche gilt auch für seine Inszenierungen. Heute ist er verheiratet und hat einen Sohn. Doch die Bereitschaft, etwas zu riskieren, ist geblieben.
Fritsch, der mit Rockmusik aufwuchs, nie ein Instrument gelernt hat und auch keine Noten lesen kann, begann 2012 damit, Opern zu inszenieren. Die Banditen, von Jacques Offenbach in Bremen, war die Ouvertüre, im folgenden Jahr ging es in Zürich mit Péter Eötvös’ Drei Schwestern dann richtig zur Sache: „Das ist Neue Musik, wie man sich Neue Musik vorstellt. Ich hab mir das angehört und dachte: ‚Oh, du lieber Himmel!‘ Dann hat’s mich aber gereizt, das richtig mit Gefühl zu machen, Sentiment reinzulegen, dass es Unterhaltung wird. Und das haben wir auch hingekriegt, selbst das konservative Zürcher Publikum hat kräftigst applaudiert“, erinnert sich Fritsch. „Der Einzige, der todbeleidigt war und mir sagte, das wäre zu viel Theater und müsste viel kühler kommen, war der Komponist Péter Eötvös. Der war so sauer, der hat bei der Premiere einen Tobsuchtsanfall gekriegt und ist auf den Intendanten losgegangen. Das Problem an dieser ganzen Neuen Musik ist das humorfreie … Hurz!“
Trotzdem liebt Fritsch die Oper und hält sie für außerordentlich zeitgemäß. Er hat Mozarts Don Giovanni an der Komischen Oper gemacht und Paul Linke deftige Frau Luna an der Volksbühne. Fast immer mit dabei: Der langjährige Kapellmeister, Musiker und oft auch Schauspieler Ingo Günther. „Die Arbeit an den Opernhäusern ist von so vielen Regulierungen eingeschränkt, dass es keinen Spaß mehr macht“, sagt Fritsch. „Die erwarten immer, dass man Noten lesen kann. Mit Ingo gibt es diese Barrieren nicht, dem summe ich einfach eine Melodie vor.“ Ohne Titel Nr. 1, eine selbsternannte Oper von 2014, zeigt, wie prächtig die Zusammenarbeit der beiden funktioniert. Wieder gibt es eine Einladung zum Theatertreffen, einige Kritiker behaupten allerdings auch, der Regisseur würde alles „fritschisieren“, viel zu dick auftragen, Dilettantismus vortäuschen und er wolle aus jedem Stoff ein paar derbe Extra-Lacher rauskitzeln.
Wenn es nicht swingt
Das kann man so sehen. Wenn man am Ideal der schönen Künste hängt und an dem Glauben, eine Aufführung habe werkgetreu zu sein. „Mir ist es egal, wie hoch oder tief einer mit seiner Stimme kommt – mich interessiert der Klang. Erst wenn ein Text klingt, wenn er musikalisch ist, dann überträgt sich für mich etwas Inhaltliches.“ Ein altes Motto von Duke Ellington ist deshalb zum Leitmotiv von Fritschs Arbeit geworden: „It don’t mean a thing, if it ain’t got that swing.“
Und auch wenn Fritsch heute regelmäßig in Wien, Zürich oder Hamburg arbeitet – ohne die Berliner Volksbühne wäre seine Karriere möglicherweise anders verlaufen. Zäher, schwieriger, mit mehr Kämpfen und Kompromissen. Frank Castorfs Theater ist ein anderes, auch das von René Pollesch und Christoph Marthaler, doch in der Volksbühne gab es die Freiheit, alles auszuprobieren – und dennoch eine gemeinsame Haltung: „Diese Zeit werde ich nie vergessen“, sagt Fritsch, der Ende Mai an die Berliner Schaubühne wechselt. „Leute von außerhalb können unseren Umgang damit als larmoyant bezeichnen, oder weinerlich. Aber es ist ein magischer Ort, eine magische Bühne. Etwas Einmaliges, was es vorher für mich nie gab und wahrscheinlich so schnell auch nicht mehr geben wird.“
Und so endet auch Pfusch, Fritschs letzte Inszenierung für die Volksbühne, mit einem Abschied. Alle Schauspielerinnen und Schauspieler treten am Ende noch einmal einzeln vors Publikum, winken artig mit der Hand und sagen leise: „Tschüss.“ Dann fällt der schwere eiserne Bühnenvorhang. Eine Zugabe gibt es nicht. Fritsch macht anderswo weiter, die Volksbühne unter Chris Dercon sieht einer ungewissen Zukunft entgegen.
Jürgen Ziemer
Veröffentlicht in Der Freitag 18/2017