Wie klingen Alzheimer und Demenz? Unter dem Pseudonym The Caretaker beschäftigt sich der britische Musiker James Leyland Kirby seit 20 Jahren mit dem Zerfall von Erinnerungen. Mit dem Opus Magnum „Everywhere At The End of Time“ hat er das Projekt jetzt beendet.
Cover: Ivan Seal, Foto: Joaoventuraobvio/CC BY-SA 4.0
Schon ist man wieder ein paar Jahre älter, hat man das Gefühl alles um einen herum löst sich auf. Musik wird zum Stream, Daten landen in der Cloud und wer in einer Großstadt von A nach B möchte setzt heute auf Carsharing und nicht mehr auf den eigenen PKW. Was bleibt sind Erinnerungen. Die Lufthansa bewirbt in ihrer aktuellen Kampagne weniger die bekannten Traumziele, als vielmehr die Erinnerung, dass man einmal dort war: „Nobody regrets making memorys“. Erinnerungen sind der Kern unseres Seins. Alles spezifisch Menschliche ist darin involviert und aneinandergekoppelt: Bewusstsein, Geist, Emotion, Verstand und Poesie. Erinnerung ist mehr als nur Gedächtnis – sie ist identitätsstiftend. Selbst in der Popkultur, wo noch vor 20 Jahren die Parole galt „Forward ever, backward never“, durchsuchen heute sentimentale Vinyl-Sammler die letzten verbliebenen Plattenläden nach dem Glück der eigenen Jugend.
„Das große Problem der Gegenwart, ist das Gewicht der Vergangenheit“, sagt der britische Musiker James Leyland Kirby, der sich unter dem Namen The Caretaker seit 20 Jahren mit dem Themenkomplex Erinnerung und Verlust beschäftigt. Seine Drones und Ambient-Stücke sind Klang gewordene Metaphern, komplexe musikalische Studien des Zerfalls, die gerne mal mit einem altmodischen Schallplatten-Knistern unterlegt werden, auch wenn hier alles digital zugeht. Auf einem Album wie „Theoretically Pure Anterograde Amnesia“ – der Titel bezieht sich auf eine Krankheit, die die Merkfähigkeit für neue Bewusstseinsinhalte massiv reduziert – gibt es keine Lieblingslieder, „es ist wie der Versuch sich an einen Traum zu erinnern. Manche Dinge sind klar, doch die Details bleiben immer noch unerreichbar im Dunkeln“, sagt Kirby. Sehr viel Wehmut und ein Gefühl von Vergeblichkeit ziehen durch die oft überraschend angenehm zu hörenden Stücke, die man trotzdem nur sehr bedingt als Pop bezeichnen kann.
In den späten Neunzigern und frühen Nuller Jahren schlachtete Kirby unter dem Projektnamen V/Vm überwiegend die Musik von Popstars wie Wham, Alphaville oder Gary Glitter. Der Guardian bezeichnete ihn noch 2009 als „leidenschaftlichen Unruhestifter“, mit dem Bedürfnis andere Leute anzupissen. Doch auch in Kirbys alptraumhafter Zeitlupen-Version von Chris De Burghs „Lady in Red“ – das Wort „blutrot“ drängt sich hier geradezu auf – geht es letztlich um Erinnerung: „Wenn man meine Fassung des Songs kennt, überlagert sie das Original mit der verzerrten Erinnerung daran, wie es anders sein könnte“, schreibt der 1974 in Stockport, in der Nähe von Manchester geborene Musiker in einer Mail. Ein Phänomen, nennen wir es korrumpierte Erinnerungen, das sich unter anderen Vorzeichen gerade bei der Wahrnehmung der Musik von Michael Jackson zeigt.
Jetzt hat Kirby seine bisher aufwendigste und empathischste Arbeit fertiggestellt: „Everywhere At The End of Time“ beschreibt über sechs Alben, veröffentlicht zwischen 2016 und 2019 im Abstand von exakt sechs Monaten, die fortschreitenden Stadien (Stages) von Alzheimer und Demenz. Jedes einzelne dieser Alben ist eine künstlerische Reflektion über spezifische Symptome: Von der langsamen Erkenntnis des Patienten, dass etwas nicht stimmt, bis zur kompletten Auflösung des Bewusstseins. Wie bereits auf „An Empty Bliss Beyond This World“, dem mit zwei Millionen YouTube-Klicks überraschend erfolgreichen Vorgänger, bilden auch diesmal wieder alte Jazz-Aufnahmen aus den 30er und 40er Jahren ein Fundament, das durch Hall, Verlangsamung und Klang-Modulationen ins Abstrakte überführt wird. „Das Besondere an dieser Musik ist ihr Gespür für Verlust, in den Texten geht es oft um Geister und Spuk. Viele Aufnahmen vermitteln diesen sonderbare und gruselige Eindruck, auf den ich mich fokussiere und den ich bereits in anderen Veröffentlichungen herausgearbeitet habe“, sagt Kirby.
„Stage 1“ klingt angenehm nach einem altmodischen, menschenleeren Ballhaus, in dem gelegentlich der Wind die Vorhänge bläht. Unwirkliche Melodien wehen durch den Raum, mal spielt ein geisterhaftes Piano, mal eine komplette Band. Alles Samples und Loops aus Platten von Jazz-Age-Künstlern wie Al Bowlly oder Russ Morgan, die Kirby für kleines Geld in längst nicht mehr existierenden Plattenläden erworben hat. „Demenz ist ein ernsthaftes Thema, auch in meiner Familie gab es Fälle, erst letztes Jahr habe ich einen Onkel verloren. Was die „Everywhere At The End Of Time“-Serie angeht, habe ich zuerst verschieden Fallbeispiele studiert, um daraus ein Bild zu formen in dem man die häufigsten Symptome erkennt. Aber natürlich variiert das alles sehr“.
Von Album zu Album verblassen die wehmütigen Jazz-Melodien mehr und mehr, nur ein paar Fetzen, einzelne nachhallende Töne bleiben länger erkennbar. „Wissenschaftler behaupten, das Letzte was im Gehirn verbleibt, sind musikalische Erinnerungen“, sagt Kirby.
Eine Suche nach der verlorenen Zeit, die ab dem vierten Teil von „Every At The End of Time“ ins Unterbewusste abgleitet. Das sonnige, Jazz durchwehte Kaffeehaus hat sich in einen endzeitlichen Ort am Rande eines dunklen Ozeans verwandelt. 1999, beim ersten Caretaker-Album „Selected Memories From The Haunted Ballroom“, ging es Kirby noch darum, eine nostalgische Klangwelt zu erschaffen. Eine musikalische Erweiterung der gruseligen Ballroom-Szenen aus dem Film „The Shining“. Der Projektname The Caretaker bezieht sich auf Jack Nicholsons Rolle des Hausmeisters (engl. Caretaker) in Stanley Kubricks Horror-Klassiker. „Es geht um ein bestimmtes Gefühl“, sagt der Musiker, „später spielten auch Filme wie „Carnival of Souls“ und Dennis Potters „Pennies From Heaven“ eine Rolle. Dabei existierte das Projekt lange in einer sonderbaren Schattenwelt und hat sich erst im Lauf der Jahre ohne jede Promotion, ausschließlich durch Mundpropaganda verbreitet“. Die Alben erscheinen auf Kirbys Label „History Allways Favours The Winners“ und sind überwiegend nur digital erhältlich, als Download bei Bandcamp, als Stream bei YouTube. Kleine Vinyl-Auflagen sind meist schon nach Tagen vergriffen.
Das Unheimliche ist dabei in Kirbys Musik durchgängig präsent, überzogen von einer sonderbaren Melancholie, der jeder Glaube an die Zukunft fehlt. Der britische Autor Mark Fisher hat The Caretaker, neben dem Dubstep-Musiker Burial, zu einem der Kronzeugen seiner Hauntology-Theorie gemacht. Basierend auf „Marx‘ Gespenster“, einem Buch von Jacques Derrida, der sich darin angesichts des Triumphs der neuen Weltordnung nach 1989 zum Fürsprecher des Untoten machte, geht es um die Geister der Vergangenheit, die in Form von Erinnerungen noch immer durch die Gegenwart spuken. In „Gespenster meines Lebens“ schreibt Fisher: „Es ist der feuchte, schimmelige Geruch der Gruft, von Parfum und Schminke niemals ganz überdeckt, der bei der Musik von Caretaker das Easy Listening stört und dafür sorgt, dass ein Unbehagen, ein mulmiges Gefühl bleibt. Auf Dauer lassen sich die am äußersten Rand unserer audiovisuellen Wahrnehmung lauernden Schatten nicht ignorieren: Die Reise auf den Spuren der Erinnerung ist wundervoll berauschend, doch bleibt der bittere Beigeschmack“.
Der marxistische Theoretiker Frederic Jameson, erkennt eine der Blockaden postmoderner Kultur darin, dass wir nicht in der Lage sind uns auf unsere eigene Gegenwart zu konzentrieren, als wäre uns die Fähigkeit abhandengekommen, sie ästhetisch darzustellen. Die Angst vor einer als dystopisch empfundenen Zukunft führt zu einer Sehnsucht nach der gefühlt heimeligen Vergangenheit. Ökonomisierung, vermeintlich alternativlose Politik und eine grundsätzliche Haltung des „weiter so“ und „muss ja“ prägen den Alltag. „Noch in den Neunzigern dachten wir alle 2000 und was folgt, sei tatsächlich der futuristische Ort, als der die Zukunft verkauft wurde. Doch stattdessen war es ein kollektiver Moment der Enttäuschung. Von der derzeitigen politischen und planetaren Situation mal ganz abgesehen“. Auch von Rave und Techno ist der einstige Enthusiast enttäuscht. Für „The Death of Rave“ sampelte Kirby Hunderte von einschlägigen Tracks aus den Jahren 1988 bis 1996 und bearbeitete sie so lange, bis daraus ein wehmütiges Requiem wurde. „Das Album entstand 2006 nach einem Besuch im Berghain, als der Club noch Underground war – wenn es diesen Begriff heute überhaupt noch gibt“, sagt Kirby, der nach einigen Jahren in Berlin inzwischen in einem Dorf in der Nähe von Krakau lebt. „’The Death of Rave“ nimmt einige Dinge vorweg, die heute viel offensichtlicher sind. Das Fehlen von Energie und Spirit, im Vergleich zu den späten 80ern und frühen 90ern. Etwas war verschwunden, oder anders geworden, ein Gefühl, das ich auf diese Weise dokumentiert habe“.
Was auffällt, wenn man die Veröffentlichungen von Kirby durchgeht, sind die sprechenden, manchmal regelrecht poetischen Titel: „We, So Tired of All The Darkness In Our Lives“, Sadly The Future Is No Longer What It Was“ oder „We Drink To Forget The Coming Storm“: „Es ist ein Framing meiner Arbeiten. Zwei der oben genannten Titel stammen aus Popsongs der Achtziger Jahre, doch wenn man die Zeilen aus ihrem Zusammenhang nimmt, stehen sie für sich selbst und geben den Klängen einen Rahmen“. Ähnlich verhält es sich mit den abstrakten, in kräftigen Farben gehaltenen Covern der Caretaker-Alben, die überwiegend von dem Maler Ivan Seal gestaltet werden, einem alten Freund aus Manchester. „Ich gebe ihm beim Artwork Carte Blanche, deshalb ist es seine reine Reaktion auf den Sound und das Konzept der jeweiligen Veröffentlichung“, sagt Kirby. „Einige seiner verdrehten Gemälde sind deshalb so schön, weil er windschiefe Kindheitserinnerungen einfängt. In einigen neueren Bildern verwendet er ein spezielles Gelb, in dem in den Achtzigern viele englische Autos lackiert waren. Mein Onkel Keith hatte einen Ford Capri in genau der Farbe, mit einer Tür, die jedesmal fast abfiel, wenn man um eine Ecke fuhr. Ich hatte das alles komplett vergessen, aber die Erinnerung kam zurück durch diesen ganz speziellen Gelbton.“
Noch bis zum 16. Juni ist im FRAC Auvergne, im französischen Clermont-Ferrand, die gemeinsame Ausstellung „Everywhere, An Empty Bliss“ zu sehen. Seals Bilder sind über zehn Räume verteilt und Kirby hat für jeden einzelnen Raum eine exklusive Audio-Installation geschaffen: „Es ist fast, als hätte man für alle Räume Alben gemacht, die sich miteinander vermischen, um Sinn oder Unsinn zu machen, je nach der Beschaffenheit des einzelnen Raums“. Es ist das letzte Gastspiel des Caretakers, der in einem Abschieds-Statement schreibt: „May the ballroom remain eternal. C’est fini.” Wir werden uns gerne an ihn erinnern. So lange wir es noch können.
Jürgen Ziemer
Erschienen in Der Freitag Ausgabe 16/2019